Am heutigen Montag, 19. September, kommt der Kölner Künstler Gunter Demnig wieder nach Leipzig und verlegt 26 neue Stolpersteine. Die Verlegung neuer Stolpersteine startet an diesem Tag um 9:00 Uhr an der Ecke Hainstraße 31/Brühl 2. Dort wird an die jüdische Familie Rafe erinnert. Sie zählte vierzehn Familienmitglieder aus drei Generationen, von denen sechs in den Konzentrationslagern Bergen-Belsen und Auschwitz ermordet wurden.

Dass das grausame Schicksal der Opfer des NS-Regimes die überlebenden Familienmitglieder und die Nachkommen noch immer beschäftigt, zeigt das Beispiel der Familie Tepper, die mit polnischer Staatsbürgerschaft bis 1938 in Leipzig lebten. Willy Wolf Tepper war Kaufmann und Handelsvertreter in Leipzig. Mit Frau und vier Kindern lebte er in der Berliner Straße 2. Außer dem Sohn David „Freddy“, der mit seiner Frau Jenny 1938 nach Kanada fliehen konnte, wurden alle anderen nach Polen deportiert. Sieben Steine, die 11:15 Uhr verlegt werden, erinnern dann an das Schicksal der Familie Tepper. Initiiert hat diese Stolpersteine der Sohn des geflohenen David „Freddy“, der heute in den USA lebt und Leipzig im nächsten Frühjahr besuchen wird.

Das Schicksal der Familie Tepper: Opfer der „Polenaktion“

In den frühen Morgenstunden des 28. Oktober 1938 wurden in ganz Deutschland die hier lebenden polnischen Staatsbürger, die überwiegend Juden waren, trotz gültiger Papiere des Landes verwiesen. Dieser Maßnahme war eine diplomatische Krise zwischen der polnischen und der deutschen Regierung vorausgegangen. In deren Folge ordnete der Reichsführer SS Heinrich Himmler an, dass alle polnischen Staatsbürger unverzüglich in Gruppentransporten über die deutsch-polnische Grenze abzuschieben seien.

Im gesamten Reichsgebiet wurden in dieser „Polenaktion“ insgesamt 17.000 Polen verhaftet, allein in Leipzig waren es ca. 1.600. Auch hier begann die Gestapo am Morgen des 28. Oktober 1938 die Menschen in Sammellagern zusammenzutreiben und vom Hauptbahnhof mit Sonderzügen abzuschieben. Etwa 1.300 Menschen konnten im polnischen Generalkonsulat in der „Villa Ury“, Wächterstraße 32, vorerst noch Schutz finden, da der Konsul sie gewarnt hatte. Die meisten der Abgeschobenen wurden nach dem deutschen Überfall auf Polen in Gettos und Vernichtungslagern ermordet.

Willy Wolf Tepper besaß die polnische Staatsangehörigkeit. Er lebte gemeinsam mit seiner Frau und den vier Kindern David „Freddy“ (geb. 1911), Kurt (geb. 1915), Ephraim (geb. 1916) und Zita (geb. 1920) in der Berliner Straße 2. Im Zuge der „Polenaktion“ wurden Wolf und Dora Tepper mit ihrer Tochter Zita am 28. Oktober 1938 nach Polen ausgewiesen. Dort kamen sie ins Ghetto Sosnowiec, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten. Willy Wolf Tepper starb am 16. Juni 1942 in Sosnowiec.

Dora und Zita wurden im August 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wo Dora im Januar 1945 befreit wurde. Nach dem Krieg emigrierte sie nach New York. Dem Sohn David „Freddy“ gelang die Flucht. Er konnte bereits 1938 mit seiner Ehefrau Jenny Tepper, geb. Marmerstein, nach Kanada und später in die USA auswandern. Auf Initiative des Sohnes von David „Freddy“ Tepper und seiner Mutter werden an diesem Tag insgesamt sieben Stolpersteine verlegt. Im Frühjahr 2017 wird die in den USA lebende Familie Tepper Leipzig und die für ihre verfolgten Angehörigen verlegten Stolpersteine besuchen.

„Großschweidnitzer Giftkur“ kostete zahlreichen Bewohnern der Landesheilanstalt das Leben

An Kaltblütigkeit und Brutalität kaum zu übertreffen ist das erschütternde Schicksal von Elli Helm. Sie lebte zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern seit 1920 in der Steubenstraße 37 (heute Holbeinstraße) in Schleußig. Elli litt an Epilepsie, was dazu führte, dass sie ab 1936 in einem Heim untergebracht wurde. Nach mehreren Heimwechseln wurde Elli Helm letztendlich in der Landesheilanstalt Großschweidnitz untergebracht. Elli Helm war eine von Tausenden, die Opfer der sogenannten „Großschweidnitzer Giftkur“ wurden, die im Rahmen der nationalsozialistischen „wilden“ Euthanasie angewendet wurde. Hierbei werden die Opfer durch Medikamentenüberdosen und bewusster Mangelernährung durch das Pflegepersonal ermordet. Mit der Verlegung eines Stolpersteins in der Holbeinstraße 37 wird an Elli Helm als eines der vielen Euthanasieopfer des Nationalsozialismus gedacht.

Auch die 1933 geborene Ingeborg Emma Maria Gebhardt wurde aufgrund einer geistigen Behinderung aus dem „Katharinenhof“ Großhennersdorf in die Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein verlegt und dort im Alter von nur sieben Jahren am 2. Oktober 1940 wie über 13.000 andere vergast.

Stolpersteine in Leipzig

Das Projekt Stolpersteine erinnert und vergegenwärtigt das Leid jüdischer Mitmenschen, politisch Andersdenkender, von Kindern und Erwachsenen mit Behinderungen, Sinti und Roma, Homosexuellen und allen anderen von den Nationalsozialisten Verfolgten und Ermordeten. Vor dem letzten frei gewählten Wohnhaus werden Stolpersteine mit dem Namen, dem Jahrgang und dem Schicksal der betroffenen Person ebenerdig im Gehsteig eingelassen. In Leipzig werden diese Erinnerungsmale seit nunmehr 10 Jahren verlegt.

Nach einem Beschluss des Leipziger Stadtrates startete am 3. April 2006 das Projekt in Leipzig mit der Verlegung von elf Steinen im Stadtgebiet. Die bewusst überparteilich arbeitende Arbeitsgruppe „Stolpersteine in Leipzig“ organisiert seitdem die Verlegungen, betreut interessierte Gruppen bei ihren Recherchen, koordiniert die Termine, kümmert sich um den Internetauftritt sowie die Öffentlichkeitsarbeit und hält Kontakt zu Angehörigen und Hinterbliebenen. In der Arbeitsgruppe wirken das Archiv Bürgerbewegung Leipzig, die Evangelische Jugend Leipzig, die Gedenkstätte für Zwangsarbeit in Leipzig und das Bürgerkomitee Leipzig e.V., Träger der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“. Diese Leipziger Vereine ganz unterschiedlicher Themensetzung haben das Projekt in den vergangen 10 Jahren getragen und im kollektiven Bewusstsein der Stadt etabliert.

Dafür braucht es bürgerschaftliches Engagement, braucht es die Unterstützung vieler Menschen. Zunächst müssen die Adressen von Bürgern der Stadt, die in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert worden waren, recherchiert werden. Religionsgemeinschaften, Ämter und Forschungseinrichtungen helfen dabei. Die Stolpersteine sollen somit nur ein Anstoß für möglichst viele Leipziger sein, sich unmittelbar mit der Geschichte ehemaliger Mitbürger, vielleicht sogar Nachbarn, auseinanderzusetzen.

Stolpersteinverlegungen am 19. September in Leipzig
 
9:00 Uhr Hainstraße 31/Brühl 2: Die Familie Rafe zählte vierzehn Familienmitglieder. Nur wenigen gelang die Flucht. Sechs Familienmitglieder wurden in den Konzentrationslagern Bergen-Belsen und Auschwitz ermordet.

10:15 Uhr Springerstrasse 28: Elena Matzkewitsch war Schülerin an der Max-Klinger-Schule. Ihr gelang 1938 die Flucht nach England. Ihre Eltern, Sonja und Moses Matzkewitsch, wurden 1944 in Auschwitz ermordet.

11:15 Uhr Berliner Straße 2: Willy Wolf Tepper war Kaufmann und Handelsvertreter in Leipzig. Mit Frau und vier Kindern lebte er in der Berliner Str. 2. Außer dem Sohn David „Freddy“, der mit seiner Frau Jenny 1938 nach Kanada fliehen konnte, wurden alle anderen nach Polen deportiert. Sieben Steine erinnern an das Schicksal der Familie Tepper.

12:00 Uhr Johannisgasse 3 (Verlegeort: Grimmaischer Steinweg neben Radisson Blu Hotel): Josef Deutsch war Nervenarzt in eigener Praxis in der Johannisgasse 3, wo er auch wohnte. 1938 floh er in die Tschechoslowakei. Sein letztes Lebenszeichen kommt 1940 aus Zagreb (Jugoslawien). Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt.

14:00 Uhr Schwägrichenstraße 17: Ingeborg Emma Maria Gebhardt wurde 1933 geboren. Aufgrund einer angeborenen geistigen Behinderung befand sie sich von 1936 bis zum 27. September 1940 im Katharinenhof Großhennersdorf. Am 2. Oktober 1940 wurde sie nach Pirna-Sonnenstein verlegt und dort ermordet.

14:45 Uhr Holbeinstraße 37: Die 1902 geborene Elli Helm litt an Epilepsie. Seit 1936 lebte sie in verschiedenen Heimen. In der vom nationalsozialistischen Euthanasieprogramm geprägten Landesheilanstalt Großschweidnitz verstarb Elli Helm am 19. Februar 1944.

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