Wenn heute Abend diese Kolumne erscheint, wird Meckpomm gewählt haben. Ich will den Menschen dort „oben“ im Norden, diesen Menschen mit der schönen Sprache und der gefälligen Landschaft pauschal nichts Übles unterstellen, schon gar nicht, weil ich ausgerechnet im Bundesland Sachsen hocke, aber auszuschließen ist leider auch nichts. Oder wie mein Vater immer sagte, wenn er von seinen studentischen Trips an die Ostsee erzählte: „Diejenigen von uns, die dort mit langen Haaren aufkreuzten, haben erst mal ausgiebig auf die Fresse gekriegt.“
Ganz gleich, wie die Wahl im Norden auch ausgegangen sein wird: Ich will mich an dieser Stelle (noch) nicht erneut darüber auslassen, dass die zutage tretende wachsende Akzeptanz einer parteigewordenen Zumutung wie der AfD, dieses Zusammenschlusses mit dem Charme eines Nierentischchens, mit ganz eigener Sicht auf Schusswaffengebrauch, schwule Pärchen in ZDF-Fernsehfilmen und Überdrussgefühl von geschichtlicher Aufarbeitung des bisschen Hitlerfaschismus last century, eine meiner beiden größten Enttäuschungen im Blick auf die Entwicklungsfähigkeit der Menschheit darstellt.
Reden wir lieber über die andere. Die andere Enttäuschung. Die sitzt noch tiefer, lässt sich aber nicht losgelöst von der ersten betrachten. Kurz gesagt: Ich habe Angst, dass immer mehr umfallen. Dass ein paar von denen, die man eigentlich ganz gern zu haben pflegte, zu solchen werden, die sich zwar offiziell nicht zur AFD bekennen würden, aber nicht mehr davor zurückschrecken, deren Botschaften in schleichender Manier zu übernehmen. Oder diese – was noch desillusionierender wäre – vielleicht nie abgelegt haben.
Schmerzhafter noch, wenn die Benannten per se kluge Köpfe sind oder waren. Am schmerzhaftesten, wenn es Menschen der schreibenden Zunft betrifft, die man einst aufrichtig bewunderte und nicht zu Unrecht pries.
Harald Martenstein zum Beispiel, den man so gerne als intelligenten Kolumnen-Schreiber der ZEIT in Erinnerung behalten möchte, ist einer von ihnen. Außer über die Anstrengungen eines Lebens als reifer Vater eines Zweijährigen erfährt der Leser in den letzten Wochen vorwiegend etwas über die immer mehr nach rechts rückende, etwas resigniert wirkende Haltung des Verfassers. In der jüngsten Kolumne erklärt Martenstein gar die Aufregung über Claude Lanzmanns Entdeckung im Kempinski über den fehlenden Israel-Eintrag in der hoteleigenen Vorwahlliste als „bigger than life“ und erteilt sich – vielleicht vor Erschöpfung – eigens die Erlaubnis zu vergessen, dass allein der Holocaust noch ein bisschen bigger gewesen sein muss.
Wer an dieser Stelle Martenstein sagt, kann auch nicht vor Henryk M. Broder die Augen verschließen.
Vor einigen Monaten schrieb mich jemand an, um mir einen Link anzutragen. Es handelte sich um einen WELT-Beitrag aus Broders Feder mit dem Titel „Wer nur Mitleid empfindet, hat keinen Verstand“.
Ich solle diesen dringend lesen, weil ich mich doch „immer so flüchtlingsfreundlich“ zu äußern pflege. Der Artikel solle mich „wachrütteln“. Da Schläfrigkeit jedoch gar nicht meiner Natur entspricht, rüttelte ich dem Beitrags-Sender daraufhin einiges in die Tastatur.
Insgesamt betrachtet, taugte der Broder-Beitrag weniger zur Wachrüttelung, sondern eher zur Beruhigung, dass einem lebendigen und gewandten Schreiber auch großer Stuss aus der Tastatur zu hüpfen vermag. Mit anderen Worten: Ein kluger Kopf hat auch einmal bad-hair-day.
Was Broder da in seinem Warn-Text zur Flüchtlingsproblematik aufführte, waren in der Summe ungeordnete Sachverhalte, unhaltbare Meinungen und willkürlich aufgeführte Kosten-Aufstellungen, zusammengerührt zu einem zynischen Altherren-Besserwisser-Mix. Vor allem aber wurde konsequent das eigentliche Problem („Wie kommen wir jetzt einigermaßen konstruktiv mit der Situation so vieler Neuankömmlinge klar?“) galant umschifft, indem Menschen, die „nur Mitleid“ mit den Flüchtlingen empfänden und sich überdies nur „mit einer Spende befreien“, als dämlich diffamiert wurden.
Das kann man zweifellos machen, ich bin kein Beleidigungs-Aufspür-Fetischist, allein: Voran bringt das noch nichts.
Tatsächlich gesellt sich zum Unterstellungsfaible häufig eine erfrischende Phantasielosigkeit. „Der Arzt aus Syrien“, so schrieb Broder nämlich im Fortlauf, „der uns immer wieder in den „Tagesthemen“ oder im „Heute Journal“ präsentiert wird, müsste erst einmal eine Weile nachsitzen, bevor er in einem Krankenhaus Patienten behandeln darf.“ Kein Mensch würde sich von einem Sprachunkundigen die Mandeln oder den Blinddarm herausnehmen lassen.
Ungeachtet der Tatsache, dass man sich mit einem akuten Appendix vermutlich von JEDEM Arzt operieren lassen würde, ob er nun kurdisch, arabisch, deutsch oder Esperanto spricht, muss man doch realitätsnah entgegenhalten, dass es diese Ärzte aus Syrien doch bereits gibt! Und zwar mit erfolgreich absolvierter Nachhilfe. Die in Krankenhäusern ihren verdammt wichtigen Dienst tun und das meist zu gar keiner so großen Unzufriedenheit ihrer anspruchsvollen deutschen Patienten. Die Nachhilfe funktioniert doch offensichtlich und zeitigt bereits keine so verachtenswerten Entwicklungen!
Es kommt einer Tragödie gleich, wenn Menschen mit satirischem Talent der Kardinalfehler unterläuft: Nämlich die Zustände konservieren zu wollen. Oder vielleicht auch gar nichts mehr zu wollen – außer zynisch grinsend zu formulieren.
Es könnte doch immerhin zumindest zutreffen, dass es engagierte Helfer wenig verdienen, lapidar als „Wesen ohne Verstand“ geziehen zu werden, weil sie vermutlich genau unter jener gesellschaftlichen Visionslosigkeit leiden? Weil Wellness-Oase, Wohlfühlaroma und Mitternachts-Shopping einen auf Dauer doch nicht gänzlich erfüllen und man auf dem Sterbebett sein Leben nicht als sinnlosen Schluckauf des lieben Gottes zu subsumieren wünscht?
Dass das Flüchtlingsproblem vielleicht die Ansprüche der Menschen in unserem Land auch wieder auf ein gesünderes Maß nivellieren könnte, wird nicht im Ansatz auch nur in Erwägung gezogen.
Dabei bleibt vor allem eines schleierhaft: Ich wüsste nicht, warum menschlichem Idealismus mit mehr Ironie zu begegnen sei, als dem in jedem Falle perspektivlosen Materialismus der „Ober-Grenz-Soldaten“ und ihrer Claqueure.
Mit anderen Worten: Wenn es jetzt eben Mode ist, dass man kritisiert wird, wenn man Fürsprache für den Mitmenschen leistet, sei’s drum. Freuen wir uns über jeden, der es trotzdem tut. Fürsprache hält, Ideen gebiert und Verhältnismäßigkeit in der Sicht auf den Mitmenschen bewahrt. Flüchtlinge, ganz gleich welcher Herkunft, haben diese Sicht im Moment besonders verdient. Alles andere käme der Torheit gleich, identische Anforderungen zum Erlangen des Sportabzeichens für Achtzehn- und Achtzigjährige festzulegen. Solange aber die Frage Nr. 1 bleibt: „Was kostet uns ein Flüchtling?“ und wir daran all unsere Sorgen und Ängste aufziehen, dann haben wir das „Broderline“-Symptom.
Verzeihen wir es.
Manchmal will man selber auch mal nur Alpha-Kevin sein.
Oder einfach bigger than life. 😉
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