Das Wochenende ist ja ein Jahrhundertwochenende. Zumindest in Leipzig. Im Stadion verlieren herbeigereiste Gäste gegen RB und im Opernhaus jede Menge Geld. Keiner aber das Gesicht. Das ist doch schon mal was. An besagter Stelle am Augustusplatz hätte man schwarze Silhouetten von Menschen an die Scheiben kleben können, nach dem Vorbild ihrer gefiederten Zeitgenossen an Hotelfenstern oder Bushaltestellen, so groß schien das Interesse Schaulustiger am edlen Event zu sein. Wer mag dies auch nur einem Einzelnen verdenken? Nur eines mag man kaum glauben, wenn man sich auf den Straßen am lauen Sommerabend gestern ein wenig umtat: dass die Angst angeblich die bemerkenswerteste Begleiterscheinung der Deutschen sein soll.
Vielleicht handelt es sich doch nur um etwas – vielleicht auch nur medial und meteorologisch erzeugte – Unruhe. Der Sommer drückt ja gerade noch mal dermaßen auf die Tube, dass man schon Schuldgefühle entwickelt, wenn man nur eine Stunde zu Hause rumgurkt und abwäscht. „Carpe that fucking diem!“ schießt es einem nach fünf Minuten sofort in den Kopf und schon wird aus dem löblichen Ansinnen ein Abwasch interruptus. Man merkt: Allein so ein Spätsommer-Wochenende mit dem Stempel „Amüsemeng – jetzt!“ kann den Menschen ganz schön fordern.
Aber auch im Restjahr scheint das alles nicht einfacher, wenn man ehrlich ist. Da schreibt die örtliche Zeitung zum Beispiel etwas über mutmaßlichen sexuellen Tiermissbrauch in einer hiesigen Hundepension, eine überregionale wiederum über Leute, die sich gern als Hund oder Pferd verkleiden und sich dann von ihrem aktuellen Partner ausführen ließen. Wenn man dann am Nachmittag trotzdem nur herkömmlich spazieren geht, trifft man vielleicht auf eine Schar verkleideter junger Männer, die als Burschenschaftler ein Konzept gefunden zu haben scheinen, ihrem Leben Sinn und Gehalt zu adden.
Kein Zweifel: Das Leben der anderen ist nun mal das Leben der anderen. Deswegen nennt man sie ja so. Und wenn die anderen gerne weitere Identitäten annehmen oder seltene Gelüste ausleben, dann ist daran kaum zu herumzukritteln. Allein: Die Häufigkeit deren Auftauchens oder Erwähntwerdens schafft sich osmotischen Zugang ins Hirn. Ob man will oder nicht.
Fragile Personen beginnen dann nicht selten zu zweifeln: Nimmt man selbst noch teil am modernen Leben? Ohne Pferdekostüm im Schrank? Ohne heimlichen Sexualpartner im Zoo oder im Tierheim? Was ist mit diesen Randfiguren der Gesellschaft, denen einfach manchmal nach ein bisschen Gebäck und Kaffee sowie einfachem Geschlechtsverkehr ist, um ein wenig „Urlaub von sich selbst“ zu nehmen? Sollten die nicht langsam mal etwas „für sich tun“ und nicht länger als Hemmschuh unschöne Blasen an den Füßen – Verzeihung – Hufen der Trendsetter hinterlassen? Fragen, die durchaus aufkommen können.
Und dann kommt eine irrationale Laune des Lebens ins Spiel, die sich Literatur nennt und die alles aufzuheben vermag: „Das Leben ist gut“ heißt zum Beispiel das neue Elaborat des sympathischen Schweizer Schriftstellers Alex Capus, der sein fast gesamtes Leben in dem hübschen, aber nur in Spuren tosenden Eisenbahnknotenpunkt Olten im Kanton Solothurn zu verbringen wusste und in einer anziehend unaufgeregten Art zusammenfasst, was wirklich wichtig ist im Leben.
Manchmal wirkt Literatur wie die sanfte, zur Beschwichtigung talentierte große Schwester journalistischer Kurzlebigkeit. Aber schafft sie es auch, Hundertschaften von Menschen zu animieren, sich unterm sommerlichen Nachthimmel zu versammeln? Menschen, die sich geduscht und fein gemacht haben für die Liebe? Für ein Fußballspiel? Für eine rauschende Ballnacht? Für einen ausbleibenden Sternschnuppenregen? Man weiß es nicht.
Man weiß nur: Das Leben ist gut.
Oder wie Helmut Schmidt in der ZEIT zusammenfasste: Das Leben ist schön. Schreiben wir drüber.
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