Welche Geschichten erzählen wir uns? Was formt unsere Sicht auf die Welt und auf unsere Gesellschaft? Auf welche Framings springen wir an? Was bitteschön sind Framings? - Wenn sich schon Medien nicht mit diesen Fragen beschäftigen, was soll man da von den armen Würstchen erwarten, die in die entscheidenden Positionen der EU-Hierarchie hinaufgespült oder hinaufgelobt wurden? Laurence J. Peter und Raymond Hull lassen grüßen.

Es ist ein eigenes Thema, wie die Mitgliedsländer die Besetzung der Posten der EU-Kommissare bewerkstelligen. Klug tun sie es alle nicht. Für die meisten sind diese Jobs so eine Art Altersteilzeit für abgehalfterte Parteigenossen, die man in der Heimat niemandem mehr zumuten kann.

Aber in Brüssel sind sie ja schön weit weg und können keinen großen Schaden mehr anrichten. So denken es sich augenscheinlich die Parteistrategen daheim. Und merken viel zu spät, dass ihre abservierten Kollegen in Brüssel alles dafür tun, möglichst viel Schaden anzurichten. Oder – meist sind sie mit der Unart ja auch schon daheim aufgefallen – guten Freunden aus dem Big Business ein paar schöne neue Aufträge und maßgeschneiderte Gesetze verschaffen.

Was sollten sie auch anderes tun? Es gibt ja kein Regierungsprogramm, niemanden, der für vier Jahre ein Arbeitsprogramm erstellt und eine Vision formuliert, was aus diesem Klops EU einmal werden soll. Keinen echten Europa-Kanzler oder wie man das dann nennen sollte. Selbst der EU-Präsident und sein Sancho Pansa im EU-Parlament wissen, dass sie immer noch ein paar Granden daheim rechenschaftspflichtig sind und niemand von ihnen erwartet, jetzt kreativ zu werden.

Wehe.

So nebenbei hat man hier das ganze Problem einer komplexen Hierarchie vor sich, die dem von Peter und Hull formulierten Peter-Prinzip unterliegt.

Nicht einmal der berühmte Ausweichmechanismus der „seitlichen Arabeske“ funktioniert hier. Denn die Arabeskenspringer wechseln ja nur scheinbar seitwärts aus einer Stufe der Unfähigkeit in eine andere – nur dass ihre Unfähigkeit sich dort auf noch mehr Menschen auswirkt.

Scheitert die EU am Peter-Prinzip?

Vielleicht.

Aber die Ratlosigkeit der „nach Brüssel Gelobten“ entsteht ja auch, weil sie selbst kein Programm und keine Geschichte haben. Sie sind in einer geradezu höllischen Situation gelandet: In einer, die sich nicht mehr erzählen lässt.

Auch deshalb greifen sie nach jedem Stöckchen, das ihnen die Entsandten aus dem Big Business hinhalten: Hier! Fass! Das macht dich glücklich!

Denn um mit sich selbst und einer eigentlich unaushaltbaren Situation ins Reine zu kommen, braucht der Mensch eine Geschichte. Eine Meta-Erzählung, die seinem Leben und Tun einen (höheren) Sinn gibt.

Das hat den Menschen augenscheinlich schon früh von seinen nächsten Verwandten, den Menschenaffen unterschieden. Intelligent und experimentierfreudig waren sie auch. Keine Frage. Unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, machen es noch heute vor. Aber sie werden wohl nie (zumindest nicht in den nächsten 20 oder 50 Generationen) auf die Idee kommen, Häuser, Städte und Eisenbahnen zu bauen.

Wobei auch Ian Stewart (Mathematiker), Jack Cohen (Genetiker) und Terry Pratchett (Scheibenwelt-Erfinder) da so ihre Bedenken haben. Vielleicht schaffen sie es doch – in 10.000 oder 100.000 Generationen. Wenn wir sie nicht vorher ausgerottet haben. Denn wenn es in einem Strang der Evolution so einen klaren Wettbewerbsvorteil gibt, der eine Spezies geradezu mit Wucht in der Entwicklung nach vorn wirft – dann könnten andere Spezies auch über den Schlüssel stolpern, der ihnen etwas Vergleichbares ermöglicht.

Diesen Vorteil nennen die drei in ihrem Buch „Rettet die Rundwelt“ einfach Extelligenz – als Unterscheidung zur Intelligenz. Intelligent sind die Menschenaffen auch. Aber sie haben sich kein Mittel geschaffen, gesammeltes Wissen über die Gemeinschaft weiterzugeben, als gemeinsamen Kanon von Geschichten. Diesen Kanon kennt die Menschheit seit zehntausenden von Jahren. Von den ältesten Bestandteilen erzählen bis heute Mythen und Religionen. Der Kanon erzählt uns, wer wir sind, wie wir uns unterscheiden von anderen, welche Regeln unsere Gemeinschaft formen.

Das betraf anfangs das Dorf, dann den Stamm, später Länder und – na ja – eigentlich sollte es auch Europa betreffen, wenn es so etwas Ähnliches werden soll, wie ein von allen Europäern geteiltes gemeinsames Projekt.

Gerade ist es ja dabei, in lauter alte Stammesgeschichten auseinander zu fliegen. Und man merkt nicht einmal mehr, dass da irgendwo eine bindende Geschichte sein könnte. Man läuft auseinander wie nach einer schlechten Ehe. Oder nach einer schlechten Theatervorstellung. Die niemand verstanden hat. Die auch niemanden begeistert hat, so wie eine richtig gelungene „Hamlet“-Vorstellung zum Beispiel. In der man mitleidet mit der armen Ophelia und Hamlet bedauert, weil er aus dem Schatten seines übermächtigen Vaters einfach nicht herauskommt und der damit jede Menge Unheil anrichtet.

So eine große Erzählung gibt es für Europa nicht.

Auch keine Geschichte von einem europäischen Wirtschaftswunder. Oder eine Rettungsgeschichte. Die haben die Europäer tatsächlich verpasst im letzten Jahr.

Aber wer wird schon andere retten, wenn die eigene Hütte brennt?

Und sie brennt ja seit 2008, als die Europäer eine andere große Geschichte versäumt haben: den Drachen zu töten und die Banken wieder an die Leine zu legen.

Um so große Geschichten zu erzählen, braucht man Menschen, die bereit sind, für große Geschichten auch zu kämpfen.

Solche Geschichten denkt man sich nicht erst in letzter Minute aus. An denen arbeitet man: lange und geduldig.

Das braucht länger als eine Legislaturperiode. Man holt sich blaue Flecken, muss immer wieder neu überzeugen, Rückschläge einstecken und immer wieder begründen, warum man es tut.

Das Problem ist nur: Wir leben in einer vom Konsum besessenen Welt, von der die Politik nicht frei ist. Konsumenten wollen immer alles gleich. Und fertig. Und sie behandeln Politik wie einen Supermarkt: Was die schnellste Konsumbefriedigung verspricht, wird gekauft.

Da haben Geschichten mit langem Anlauf und großem Atem kaum noch eine Chance. Sie dringen nicht mehr durch, wenn sich die Medienjunkies an Nachrichten von 140 Zeichen Länge und maximal 30 Sekunden Dauer gewöhnt haben.

Jeder Profi weiß: Damit kann man nicht mal einen ordentlichen Witz erzählen. Jeder Witz braucht Anlauf. Nur Zoten gehen schneller.

Sie sehen schon: Die Misere Europas hat eine Menge mit der Misere der Medien zu tun.

Beide brauchen Lesekompetenz und Sitzfleisch. Eine Gesellschaft, die von Sensation zu Sensation jagt, hat beides nicht. Sie wird vergesslich. Und damit hat sie auch keine Geschichten mehr, auf die sich Menschen verständigen können. Denn immer, wenn der Erzähler gerade beginnt, das Verständnis seiner Zuhörer, Zuschauer und Leser zu gewinnen, haben sie schon weggezappt.

Überrascht es da, dass niemand Lust hat auf einen Managerposten in Brüssel – außer echte Bürokratenseelen, die nichts wollen, als die Sache irgendwie auszuhalten bis zur Rente? Und die dann bei ihren Kussfreunden aus der Beraterfirma anrufen, wenn sie nicht weiterwissen?

Politik auf Krücken kann man das nennen.

Politik ohne große Vision. Und ohne Europäer. Denn die bekommt man nur, wenn man eine große Geschichte hat, an der sie alle miterzählen können. Die sie auch ändern können, wenn sie merken, dass sie ihnen nicht spannend genug ist. Oder nicht gut genug. Man merkt: Eigentlich müssten die Manager einen Teil ihrer Macht abgeben dafür. Denn Europa ist ja nun mal kein kleiner Stamm von Troglodyten oder gleichgesinnten Anbetern des Goldenen Kalbes. Es sind viele Stämme. Mit vielen alten Stammeserzählungen.

Aber was macht sie jetzt zu Bewohnern einer gemeinsamen Geschichte?

Was gehört dazu? Was macht die Geschichte spannend?

Wo ist die Geschichte?, fragen Sie.

Recht haben Sie. Wir haben nur ein paar traurige Manager, die nichts zu erzählen haben. Sie sind da eher aus Unglück gelandet oder Zufall oder weil andere Leute mal wieder schlechtes Schach gespielt haben. Da ist kein Bursche und keine Frau darunter, die den Esprit zu einer richtig großen Geschichte haben. Kein einziger und keine einzige.

So geht das nicht.

Auch nicht mit noch mehr noch billigerem Geld. Denn selbst dieses Geld läuft irre, wenn sein Einsatz keinen Sinn macht. Wenn am Horizont kein Projekt steht, zu dem alle gemeinsam hin wollen. Oder hat einer eins entdeckt?

Wir nicht.

Schmeißt die Manager raus.

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