Mehr als 28 Millionen Menschen verfolgten hierzulande am Samstagabend das Duell zwischen Deutschland und Italien im Viertelfinale der Fußball-Europameisterschaft. Unser Autor zählte nicht dazu. Stattdessen begab er sich auf eine Reise durch Leipzig und dachte dabei über Fußball, Deutschland und peinliche Jugendsünden nach.

Es ist 21 Uhr. Das verraten mir die dynamischen Fahrgastinformationen der LVB am Connewitzer Kreuz. So heißen die elektronischen Anzeigen, die über die Wartezeit bis zum Eintreffen der nächsten Bahn informieren, im Fachjargon. Der Richtung Hauptbahnhof fahrende Bus hat sich soeben in Bewegung gesetzt. Der einzige Insasse sitzt am Steuer.

Wie viele Leute gerade in der Suedbrause ein Getränk genießen, ist von der Straßenbahnhaltestelle aus nicht zu erkennen. Es dürfte voll sein. Deutschland und Italien bestreiten seit wenigen Sekunden das Viertelfinalspiel der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich. Wichtig ist dabei vor allem, dass Deutschland spielt. Eben war noch die Nationalhymne zu hören, nun vernehme ich die Stimme von Steffen Simon. Allein das ist ein guter Grund, um diesen Ort in Kürze zu verlassen.

Am Kreuz ist derweil noch ordentlich Betrieb. Insbesondere im nahen Supermarkt gehen die Menschen ein und aus. In der sechsten Spielminute – diese müsste es zumindest sein, sofern das Spiel pünktlich angepfiffen wurde – wird es zum ersten Mal hektisch. Neben mir springt eine junge Frau mit blauen Haaren auf und ruft irgendetwas quer über den Bahnsteig. Auch aus anderen Richtungen sind laute Stimmen zu vernehmen. Wurde vielleicht ein Fußball-Fan mit Deutschland-Fahne erspäht und die militante Connewitzer Szene ruft zur Jagd auf? Glaubt man diversen Kommentarspalten, müssen Menschen mit deutschen Symbolen in dieser Gegend um ihr Leben fürchten. Aber nein, jemand hatte lediglich seinen Turnbeutel verloren und dies nicht bemerkt. Kann passieren.

Mich zieht es nun Richtung Innenstadt. Im Classic XXL der Linie 11, also jenem Fahrzeugtyp, der von vorne bis hinten durchgangen werden kann, sitzen außer mir keine zehn Personen. Draußen sehe ich nur noch vereinzelt Menschen, häufig Punks und andere Leute in dunklen Klamotten. Ein Radfahrer mit Deutschland-Armbinde bewegt sich Richtung Connewitz.

Ein paar Meter weiter entdecke ich ein Plakat der Kampagne „Rassismus tötet!“. Auf den ersten Blick wirbt auch dieses für Schwarz-Rot-Gold. Schaut man genauer hin, erkennt man die Details. Schwarz ist die Nacht, Gold das Rapsfeld im Vordergrund und Rot das Feuer, welches zwei Häuser niederbrennt. Schwarz-Rot-Gold steht hier für mehr als 1.000 Anschläge auf Asylunterkünfte allein im vergangenen Jahr.

Public Viewing am Leuschnerplatz. Foto: René Loch
Public Viewing am Wilhelm-Leuschner-Platz. Foto: L-IZ

Pure Panikmache? Darf man nicht stolz auf sein Land sein, gerade jetzt zur EM? Nun, warum sollte man? Deutschland hat das schlimmste Verbrechen zu verantworten, das jemals von Menschen begangen wurde. Mittlerweile jedoch wählen die Deutschen in großer Zahl wieder eine Partei, die Hitler, Nationalsozialismus und Holocaust als „Unglücksjahre“ verharmlost. Das war vor 70 Jahren. Und heute?

Heute zählt Deutschland wieder zu den reichsten und mächtigsten Staaten der Welt. „Unser Wohlstand in Deutschland begründet sich zu einem erheblichen Teil auf der Ausbeutung afrikanischer Länder.“ Diesen Satz hat im vergangenen September kein Vertreter von Oxfam oder der Linken gesagt, sondern Bundesentwicklungsminister Gerd Müller, ein CSU-Mann. Die „Welt am Sonntag“ berichtet an diesem Wochenende von den gestiegenen Rüstungsexporten im Jahr 2015. Im Vergleich zu 2014 hätten sich diese fast verdoppelt und erreichen damit einen Höchstwert in diesem Jahrhundert. Die Waffenlieferungen gehen unter anderem nach Katar, das wahrscheinlich den IS unterstützt, und Saudi-Arabien, das vor fünf Jahren den friedlichen Protest im benachbarten Bahrain blutig niederschlug. 2015 veranstaltete das Land die „Militärintervention“ im Jemen, 2,5 Millionen Flüchtlinge und 3.000 tote Zivilisten waren das Ergebnis.

Und schließlich ist es auch Deutschland, das als Mitglied und Führungskraft der Europäischen Union mit bemerkenswerter Gelassenheit zur Kenntnis nimmt, dass an den Grenzen des Kontinents jährlich mehrere tausend Flüchtende sterben. Stolz?

Aber es geht doch nur um Fußball, um den berühmten Party-Patriotismus, mag da manch einer protestieren. Für viele ist es tatsächlich nur das. Für manche ist es aber auch mehr. Forscher der Universität Marburg haben nachgewiesen, dass der „Party-Patriotismus“ im Zusammenhang mit der Weltmeisterschaft in Deutschland vor zehn Jahren nationalistische Einstellungen befördert hat. Diese wiederum – auch das war ein Ergebnis der Studie – stehen im kausalen Zusammenhang mit Fremdenfeindlichkeit.

Liest man die Einträge auf der Dokumentationsplattform „Netz gegen Nazis“ rund um das von Deutschland siegreich bestrittene WM-Finale 2014, kann von „Party-Patriotismus“ oder Nationalismus sowieso keine Rede mehr sein. Hakenkreuze, Hitlergrüße, Reichskriegsflaggen, rassistische Übergriffe, „Sieg Heil“-Sprechchöre und Parolen wie „Heb den Arm, wenn du Deutscher bist“ prägten das Bild einer Nation im kollektiven Rausch.

Vor einigen Tagen sorgte ein Artikel des „Tagesspiegel“ für Aufregung. Zwei Autoren hatten sich während eines Spiels der deutschen Nationalmannschaft mit Israel-Flaggen auf die Fanmeile in Berlin begeben. Das Ergebnis: Sieg für Deutschland und antisemitische Übergriffe am laufenden Band. Am Ende mussten die Journalisten vor einer 15-köpfigen Gruppe wegrennen. Diese hatte sie bedroht, bedrängt und bespuckt. So sieht Party-Patriotismus auch aus.

Szenen wie diese nehme ich auf meiner Reise durch Leipzig zum Glück nicht wahr. Es dauert mehr als 30 Minuten, bis ich – abgesehen von den aus aktuellem Anlass Schwarz-Rot-Gold Gekleideten – erstmals in einem Fenster oder an einem Auto die Nationalfarben sehe. Im Vergleich zu früheren Turnieren ist Schwarz-Rot-Gold offenbar etwas aus der Öffentlichkeit verschwunden. Heute scheint diese Farbkombination für viele etwas anderes auszudrücken als noch vor zwei Jahren, bevor es Pegida gab.

Public Viewing im Clara-Zetkin-Park. Foto: L-IZ
Public Viewing im Clara-Zetkin-Park. Foto: L-IZ

Viele für gewöhnlich sehr belebte Orte sind an diesem Abend leer: die Wiesen und die Sachsenbrücke im Clara-Zetkin-Park ebenso wie der Hauptbahnhof. Ausgerechnet während eines kurzen Abstechers in ein Fast-Food-Restaurant fällt das 1:0 für Deutschland. Eine Frau hinter dem Kaffee-und-Kuchen-Tresen jubelt und rennt in die Küche. Offenbar steht dort ein Fernseher. Sie ist die Einzige, die sich lautstark freut, denn auch dieser Laden ist so gut wie leer.

Die letzten Minuten der regulären Spielzeit laufen. Ich bewege mich nun durch die Innenstadt. Immer wieder sind Schreie, Rufe und Wortfetzen zu hören. Irgendwo schnappe ich etwas auf, was wie „Elfmeter“ und „Ausgleich“ klingt. Eine Gruppe junger Muslima ist ebenfalls in der Innenstadt unterwegs. Hoffentlich bleibt sie vom entspannten Party-Patriotismus verschont. Ich setze mich schließlich auf eine Bank am Augustusplatz. Mag der Party-Patriotismus selbst nur wenig entspannt sein, so ist es definitiv erholsam, diesen großen Platz an einem Samstagabend fast für sich allein zu haben.

Vor zehn Jahren, fast auf den Tag genau, war ich ebenfalls auf dem Augustusplatz. Auch damals spielte Deutschland gegen Italien. Es war das Halbfinale der sogenannten Heim-WM. So ziemlich alle hierzulande – mich eingeschlossen – waren damals davon überzeugt, dass es am Ende des Turniers nur einen Weltmeister geben könne: Deutschland. Gemeinsam mit tausenden anderen fieberte ich mit der DFB-Elf mit, sang „Ihr seid nur ein Pizza-Lieferant“ und saß nach Abpfiff der verlorenen Partie noch mehr als eine halbe Stunde lang allein und fassungslos auf dem Boden vor der riesigen Leinwand.

Seitdem hat sich meine Einstellung zu Fußball-Turnieren dieser Art stark verändert. Es ist nicht nur der nationale Rausch, der mich mittlerweile abstößt. Es ist so ziemlich alles. Die Organisationen, die Europa- und insbesondere Weltmeisterschaften veranstalten, sind kriminell. Die Spieler, von denen Top-Leistungen erwartet werden, können diese in einem relativ zufällig zusammengewürfelten Team am Ende einer langen Saison selbstverständlich nicht liefern. Die Stimmung in den Stadien ist schlechter als bei den meisten Drittligapartien. Und anstatt mir das Geschehen auf dem Rasen zu zeigen, belästigt mich die TV-Regie permanent mit Leuten auf den Rängen, die sich darüber freuen, gerade im Fernsehen zu sein. Who cares?

Mittlerweile weiß ich, dass das Viertelfinale in die Verlängerung gegangen ist. Auf dem Weg nach Hause bekomme ich davon allerdings nichts mit – weder in der gut gefüllten Straßenbahn noch während des Fußmarsches. Daheim angekommen schalte ich zum ersten Mal während dieses Turniers den Livestream an. Es läuft das Elfmeterschießen. Mehrere Schützen ballern die Kugel meterweit am Tor vorbei. Am Ende gewinnt Deutschland. Kein einziger Spieler meines Lieblingsvereins war an diesem Erfolg beteiligt, dafür gleich fünf des Dauerrivalen aus München. Warum sollte ich mich freuen?

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