Es soll Menschen geben, die fragen gerne nach dem Sternzeichen, um ihrem Gegenüber Verborgenes zu entlocken. Ich gucke lieber gleich aufs Geld. Genauer gesagt - auf die Geldbörse. Das Ding mit diesem wunderbaren alten Namen - „Portemonnaie“, der Geldträger ist nämlich nicht minder aufschlussreich. Und wo erfährt man sonst in Sekundenschnelle so viel über Geschmack, Ordnungssinn und Zukunftgewandtheit der Leute? Ich zum Beispiel würde rasch als münzorientiert, unordentlich und retro eingestuft werden.
Mein braunes Lederportemonnaie sieht aus wie ein aufgeplatzter Medizinball mittleren Ausmaßes. Ich trage schließlich mein halbes Leben damit herum: Neben einer Münzmenge, die wirkt, als hinge ich allabendlich am einarmigen Banditen, kleben noch Passbilder hinter der Klarsichtfolie und ein Geburtstagsgruß von vor drei Jahren, weil der so schön war, ein paar Fahrkarten von einem Ausflug nach Halle zur Weihnachtszeit, Bibliothekskärtchen von Städten, in denen ich längst nicht mehr lebe und natürlich die üblichen Plastikkärtchen, um die man heutzutage kaum herumkommt, wenn man sich nicht für ein Lebensmodell des Eremitentums am Hindukusch entschieden hat. Man kennt das ja, Plastikkärtchen, wohin der Finger langt: Krankenkassenkärtchen, EC-Karte, Essenkarte für die Kantine, Kreditkärtchen, Paybackkarte – nein, die kommt mir nicht in die Tüte, Kundenkarten für ein Schuhgeschäft des Wohlgefallens, Kopierkärtchen für den Bürokopierer und die einzige Karte, die ich wirklich für unerlässlich halte – die Bahncard.
In puncto Bahncard darf ich sagen: Ich habe sie alle gehabt. Bahncard 25, 50, sogar 100 – die geile Flatrate für die Bahn, ohne Fahrkarten to go. Als professionelle Zugbegleiter-Begleitete habe ich in den vergangenen Jahrzehnten mit der Deutschen Bahn so ziemlich alles durch, was ein Partner mit einem kapriziösen Egomanen-Pendant eben so mitmachen kann: Jedwede Preiserhöhung ließ ich ihr durchgehen, jede noch so hanebüchene Begründung für mehrstündige Verspätungen (aus den Top Ten: „Wir bitten um Entschuldigung. Es befinden sich verwaiste Eichen auf dem Gleis“) habe ich ausgesessen. Einmal habe ich sogar ihretwegen – außerplanmäßig am Abend in Hannover gestrandet – in dieser Semi-Zivilisation übernachten müssen. Trotzdem blieb ich ihr treu. Auch weil ich bei Bussen keinen (Daumen) hochkriege.
Warum? Weil man in Zügen schlichtweg das Leben im Brennglas dargeboten bekommt. Auf Bahnfahrten lernt sich leicht alles über die Höhen und Tiefen der menschlichen Psyche, Massenhysterien, cholerische Anfälle und Stillbeschäftigung. Und man wird – ob man will oder nicht – in Geschichten hineingeworfen. Geschichten, die manchmal sogar gut enden.
Gestern zum Beispiel in der Regionalbahn zwischen Darmstadt (ich werde mich nie an diesen Namen gewöhnen) und Frankfurt. Das Kind hatte gerade vom West-Onkel ein Modell der Titanic geschenkt bekommen und wollte natürlich wissen, warum diese so berühmt sei. Ich legte also die ganze bedauerliche Chose dar – mit Eisberg, Captain Smith und den Rettungsbooten. Plötzlich erklang hinter uns etwas blechern aus einem Handy so etwas ähnliches wie Musik: „My heart will go on“. Celine Dion schluchzt herzzerreißend durch den Wagen. Als ich mich umdrehe, radebrecht ein zierliches Männlein mit Migrantenhaar und deutsch lächelnd: „Ihre Geschichte braucht doch auch Musik. …!“ Unter den Umsitzenden schmolz unversehens auch der letzte Eisberg. Die Bahncard birgt durchaus Gewinnpotential aufs kleine Glück.
Trotzdem kommt man nur mit Plastik manchmal einfach nicht durch.
Szenenwechsel. Samstagabend, Bahnstreik, einige Zeit zurück, Erfurt Hbf. Auf dem Bahnsteig warten entmutigt aussehende Menschen auf einen der wenigen Züge, die heute hier (vielleicht) ein- und dann auch wieder ausfahren. Ein paar Mantel- und Anzugträger, eine gestrandete Mutter mit Kind, ein paar Migranten, eine Horde aufgekratzter Rot-Weiß-Fans, vom Spiel gegen Chemnitz kommend. Einer wirft einen Euro in den Süßigkeiten-Automaten, der wiederum kapitalismuskritisch nicht reagiert auf den Euro und nichts ausspuckt. Die Freunde sind erbost. Nacheinander treten die Sportenthusiasten gegen den Automaten, hämmern dagegen, stemmen sich gegen die Scheibe, lassen ihre Fäuste niederkrachen. Schreien: „Gib den verfickten Euro wieder, dreckiges Ding!“ Der Apparat wackelt, vielleicht wankt er auch, vielleicht will er sogar den verfickten Euro wieder hergeben. Alle Umsitzenden schauen konsterniert, keiner aber sagt was.
Dann fasst sich die Mutter ein Herz, steht auf und sagt: „Passt auf, Männer, ich mache euch einen Vorschlag. Ich spendier euch ’nen neuen Euro und ihr versucht euer Glück an dem Apparat da drüben. Dafür lasst ihr den hier in Frieden. Okay?“Kurzes verdutztes Schweigen. Dann wendet sich einer der Meute zu den Kumpanen: „Kommt Leute, die nette Lady hier hat einen Kleenen dabei. Lassen wir die Scheiße sein.“
Fazit: Ein paar Münzen in der Tasche sind noch nicht ganz obsolet. Erst wenn der Klingelbeutel umbenannt worden ist, haben die Münzromantik-Haptiker unter uns verloren. Und „Kopf oder zahl!“ wird keine Frage mehr sein, sondern ein unschöner Alternativ-Imperativ. Aber die Erde wird auch das aussitzen.
Oder auch nicht.
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