Pfingsten. Was hätte das schön werden können! Ich hatte mir bereits alles ausgemalt: In meiner Phantasie schlurften schon Flipflop-Mädchen lieblich durch die Straßen der Stadt, flankiert von der imposanten Riesenschar dahinWGTierender Schwarzer. Auf den Wiesen des Johanna-Parks lagen Geisteswissenschaftler Jura-Studenten bei, als sei dies ein Naturgesetz, vorbeiradelnde Männer warfen Frauen sehnsüchtigen Blickes Kusshände zu und selbst in den Gesichtern der notorischen Sonnenbrillen-im-Haar-Träger spiegelte sich so etwas ähnliches wie Lebensfreude.

Ich war bereit, unter dem Einfluss eines monströsen Hochdruckgebietes von jeglicher Wahrnehmung überwältigt zu sein und mich in jeden halbwegs erträglichen Gedanken verlieben zu können. Ich wollte mir ein ganzes langes Wochenende nicht erklären können, warum beide Weltkriege im Sommer losgebrochen waren.

Nun wissen wir: Es ist es anders gekommen und mit Baden ohne Württemberg wird’s wohl auch morgen nichts.

Kein Wunder also, dass viele da schon ein wenig in Richtung Sommer schielen. Wer Sommer sagt, kann aber oft vor der Urlaubsplanung nicht die Augen verschließen und da wird es ja nicht selten schon wieder ziemlich schwierig. Vor allem wenn man die Zeitungen aufmacht.

Kaum erfreut man sich nämlich ein wenig an aufkommender Reiselust, wird einem irgendwo erklärt, dass die Deutschen in den vergangenen 20 Jahren eine enorme Entwicklung durchgemacht hätten, was ihre Ansprüche an die Ferien angeht. Es müsse nunmehr alles perfekt sein, lange beschwerliche Anreisen seien tabu, der Urlaub müsse mit dem Schritt aus der Haustür beginnen und überhaupt „eine kleine Kur vom Alltag“ sein.

Ich bin kein Freund von Aussagen, die im Kern „Früher war alles besser“ bedeuten. Denn das hieße, offensichtlich Falsches zu wiederholen. Nicht jede Entwicklung ist per se gut, weil sie als Entwicklung bezeichnet wird und nicht alles, was geschieht, ist automatisch besser, nur weil es nicht schon vor hundert Jahren zu passieren wusste.

Fakt ist: Wir fuhren auch vor 30 Jahren in die Ferien. Die Welt stand uns bekanntlich nicht ganz so offen wie die Nikolaikirche allen Sterblichen, aber wir verreisten eben. Gerne auch im Sommer, weil es sich eben anbot. In unserem Fall hieß das, jedes Jahr das gleiche Ziel anzusteuern: Ungarn. Balaton. Den Duft der großen weiten Welt einatmen: den der armseligen Zweitakter, die sich durch Südosteuropa quälten, vermischt mit dem Geruch ungarischer Paprika.

Gegen ein Uhr in der kalten Sommerfrüh ging es gewöhnlich los. Der Wartburg vollgepackt bis unter den Dachgepäckträger mit Gastgeschenken und Bestechungsware für die Gastgeber am Plattensee: Kinder- und Damenschuhe, Amiga-Schallplatten und was man sonst noch so brauchen konnte unter Freunden. Tütensuppen, Instant-Pudding fürs Überleben in den drei Wochen kleiner Freiheit.

On the backseat, damals noch Rückbank genannt, of the Wartburg, hockte meist noch meine ältere Schwester, die sich aufrichtig in schwesterlicher Liebe darüber freute, wenn ich – noch bevor mein Vater in den dritten Gang geschaltet hatte – schon das erste Mal die Polster vollumfänglich vollgekotzt hatte. „Schnell, eine Tüte!“ tönte es dann in großer Bedrängnis von der Rückbank her und jedes Mal, obwohl ich seit Jahren zum Pflegefall zu werden drohte, sobald ich auch nur des Geruches eines herannahenden Automobils gewahr wurde, fing meine Mutter derart verzweifelt-hektisch zu kramen an, als handele es sich bei der Kotztüte mindestens um das Bernsteinzimmer.

Vielleicht war mir aber auch nur schlecht, weil ich wusste, dass ich Illegales trieb. Meine Schwester und ich waren meist bis unters Unterhemd vollgestopft mit Westgeld, ohne dessen Hilfe wir in Ungarn als Familie etwa 1,5 Tage Urlaub hätten machen können. Grenzkontrollen ersparten vielen Menschen damals das Bungeejumping. Nur mit der Freiwilligkeit haperte es noch ein wenig.

Trotz  alledem: Ansprüche wurden von uns damals irgendwie gar nicht formuliert. Keinen Menschen habe ich damals den Satz sagen hören: “Also, ich erwarte von unserem Urlaub dies oder das …“

Das Auto heizte dem Sommerurlaub entgegen, von draußen strömte der Geruch von kühlen Sommerwiesen und sterbendem tschechischen Wald. Mein Vater verfuhr sich regelmäßig in Prag, meine Mutter war Herrin über die Kühltasche. In Brünn gab es die erste Pepsi. Glück, ohne es zu ahnen.  Die Dosen bewahrte man auf. Für Stifte. Machte sich gut auf dem Schreibtisch zuhause.

Meine Eltern stellten Quizfragen nach hinten: Wie viel Wasser führt die Moldau? Wie viel die Donau? Wie heißt „Elbe“ auf Tschechisch? Wie Fleischer auf ungarisch? …

Das war unsere Kur vom Alltag. Das war perfekt.

Nur: Gefordert hätten wir diese Perfektion nie. Es geschah einfach. Glück hält sich eben nicht an Scheißforderungen und auch nicht an Scheiß-Systeme. Vor allem aber bleibt es wohltuend bockig: Es lässt und lässt sich nicht reklamieren.

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