Horcht, ich komme gerade von draußen rein und bin damit vermutlich nicht die einzige, die heute mal outdoor nach dem Rechten geguckt hat. In der Rückschau des Draußenherumtreibens kann mit absoluter Sicherheit nur eines festgestellt werden: Er ist wieder da, der Mai - der Gregory Peck unter den Jahreszeiten. Dieser Sonne-Wonne-volle-Kanne-Monat, oder wie Kästner wie stets unübertrefflich formulierte: „der Mozart im Kalender, der im Galarock des heiteren Verschwenders, aus seiner Kutsche grüßend übers Land fährt.“
Apropos heitere Verschwender in Galaröcken. In Leipzig, the verschlafenes Berlin, ist der Auftakt des Monats ja immer ein bisschen mehr natur- denn krawallgebürstet. Der gemeine Leipziger lieber zum Scheinewerfen auf die Pferderennbahn zum Aufgalopp. Wenn Tiere in erhöhtem Tempo im Kreis herumlaufen müssen, bejohlt von einer in unterschiedlichem Ausmaße herausgeputzten Menge, kann man das mögen oder nicht, Fakt bleibt: Der Höhepunkt der Veranstaltung besteht für viele ohnehin im potentiellen Aufeinandertreffen mit Clemens Meyer, der dort meist in jenem sympathischen Zustand anzutreffen ist, in dem man ihn schlichtweg am liebsten mag.
Dieses Bratwurst-Bretzel-Sektchen-Treffen auf der Rennbahn zum 1. Mai mag wie ein Knöpfchen am manchmal absurden Korsett der Wiederholungen wirken, man fühlt sich dann aber in diesem kleinen, gerade aus allen Nähten rausknospenden Leipzig doch merkwürdig zu Hause.
Der Mai hat aber noch andere Vorzüge. So deckt er zum Beispiel etwa 30 % des jährlichen Feiertagsbedarfs eines herkömmlichen Arbeitnehmers.
Mannomann, was freu ich mich heute schon auf meine Ration Himmelfahrt!
Dann endlich wird der Mitmensch wieder, allen voran der männliche, naturgemäß zahlreich zugange sein, – klappernde Bierkästen transportierend – mit Handwagen und Fahrradanhängern herumzigeunern, im Gras spielen und schneidersitzend komasaufen, um beherzt umherzugrölen und marschierend zu skandieren und hohe Rauchschwaden in den blauen Himmel blasen. Die Polizei wird wieder einiges aufbieten müssen, um allzu Fröhliche in Schach zu halten, routiniert im Ton, zur Abwechslung eben mal Vatertagida, auch das gehört zum Job.
Wahrscheinlich läuft das vielerorts ähnlich zwischen Flensburg bis Oberammergau, zwischen Wilhelm-Pieck-Stadt Guben und Castrop-Rauxel. Ich will es auch gar nicht werten, wenn Menschen sich ein Vergnügen bereiten. Allein: In der Zusammenschau scheint es uns Deutschen ein bisschen an anmutigen Traditionen zu mangeln. Alles wirkt immer so ein bisschen brachial, ein bisschen archaisch, ein bisschen wie Leberwurststulle. Vielleicht ist das aber auch gut und richtig so. Das sieht man am besten am Phänomen des Brückentags.
Ein Tag also, um vom Sprungbrett eines Feiertags besser ins Wochenende zu gelangen. Oder besser in die Ferne auszuschwärmen mit vielen anderen, die auch überbrücken. Bleibt man zu Hause, so ist das vielleicht klüger, allerdings empfindet man sich auch ein bisschen seltsam aus der Bahn geworfen: Man weiß zwar, dass Freitag ist, aber keiner, der güldet, und so richtig gerade in der Welt steht man auch nicht.
Viele kennen das: Man ist dann plötzlich ungewohnt ausgeschlafen, es geht einem hervorragend, darüber aber wird man umgehend argwöhnisch und denkt bei sich, ob das auch in Ordnung ist, dass man exakt drei Tage lang so wenig zu tun hat. Gott sei Dank hat man ein Kind. So ein Kind will ja immer was: Es will essen, es will mit einem spielen, es will mit einem um die Wette laufen oder Verstecken spielen, es will eine Geschichte, es will eine Bratwurst (kriegt es), es will ein Eis (kriegt es), es will einen Donut (Hat es eine Meise? Jetzt ist aber Schluss! …), es will nicht ins Bett, es sieht etwas, was du nicht siehst …
Aber das ist ja alles liebesbedingte Wellness. Der Brückentag bleibt. Dann versucht man sich zusammenzureißen und zur Tagesordnung überzugehen. Aber, was verdammt, ist die Tagesordnung? Vorsichtshalber frühstückt man erstmals in diesem Jahr auf dem Balkon, holt sich dabei die ersten Bikinistreifen oder die letzten Frostbeulen, liest Zeitungen der vergangenen Woche, weil man ob der Informationsflut und der nie ganz dazu passenden Pflichten, nie up to date bleibt in seinem Informiertsein.
Ungewollt entwickelt man daraufhin Gefühle aufgrund des Gelesenen. Man ist so gestrickt. Dann guckt man sich selber streng von der Seite an, weil man sich übelnimmt, dass man diese Gefühle vielleicht zu spät entwickelt. Andere sind einem vermutlich schon voraus, haben schon Bedenken gehabt, während man selbst noch verzückt im aufkeimenden Bärlauchgestrüpp dieses Frühlings versackt war.
Fazit: Bei aller Schönheit des Mai – er ist auch gefährlich! Man darf den Leuten einfach nicht so viel Zeit zum Nachdenken geben. Noch ein paar Brückentage mehr und es fangen eventuell noch mehr an, zum Beispiel über die Kontroverse zu grübeln, dass man in der örtlichen Presse arglos die Ankunft des Billigware verramschenden PRIMARK-Stores in einer der Haupteinkaufsstraßen der Stadt bejubelt, allerdings kaum noch irgendwo gemeldet wird, dass zum Beispiel die Seawatch allein in der letzten Woche etwa 300 Menschen aus dem Mittelmeer gezogen hat. Und dass dies vielleicht alles in einem gar nicht so geheimnisvollen Zusammenhang steht.
Allein – auch diese Gedanken passen zum Monat, denn:
„Melancholie und Freude sind wohl Schwestern.
Und aus den Zweigen fällt verblühter Schnee.
Mit jedem Pulsschlag wird aus Heute Gestern.
Auch Glück kann wehtun. Auch der Mai tut weh.“
Erich Kästner feat. Ulrike Gastmann
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