„Im traurigen Monat November war’s, die Tage wurden trüber, der Wind riss von den Bäumen das Laub, da reist ich nach Deutschland hinüber.“ Ok, falsche Richtung. In Heines „Wintermärchen“ findet man zwar die verkehrte Denkstrecke, dafür stimmt das mit dem Wetter. Heine kommt vor fast 170 Jahren in sein Land zurück, dies geschieht Anfang der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts. Sein Land? Zerstückelt, zerstritten und vom „Alten“, vom „Restaurieren“ zermürbt findet er es vor.
Technisch ist es vorangeschritten, die Schlote rauchen – „Umweltschutz? Nie gehört.“ – (Eisenbahn-)Wagen rollen noch nicht immer zügig, aber schon regelmäßig. Nur politisch steckt man noch im Spätmittelalter: Stand bedeutet automatisch Kompetenz, Klassenzugehörigkeit, Bildungsqualität, der Dünkel paart sich mit politischer Denk- und Fortschrittsstarre. Aber so viele Anschläge gab es nicht, Terrorismus ist eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts. Und wenn, dann waren das anarchistisch-volkstümelnde Sekten, Fanatiker. Keinesfalls pseudoreligiöse Fanatiker, wie heutzutage die radikalen „Dschihadisten“. Keinen Terror also. Nur ein Messerattentat des Burschenschaftlers Karl August Sand auf den konservativen Schriftsteller Kotzebue.
„Verräter“ Kotzebue erlag an Ort und Stelle in seiner Wohnung den schweren Verletzungen. Täter und Opfer liegen heute beinahe Seite an Seite auf dem Mannheimer Friedhof. Kaum zu glauben, aber dieser 23. März 1819 veränderte das damalige, altfeudale Europa. Pressezensurverschärfung, Überwachung statt Freiheit, man fahndete überall nach „Demagogen“ wie Heine, Büchner und anderen „Drahtziehern“ … im gespaltenen Deutschland.
„Schiefer Vergleich?“
Keine Antwort. Ich vergaß wohl die motivierende Ansprache. Oder das Stundenziel vorher verkünden? Es gleich zu Stundenbeginn an die Tafel schreiben? Dazu Smarties verteilen? Einen „Club Mate“- Kasten kaufen und ihn vorne auf den Lehrertisch stellen? Crunchips verteilen? Oder mit einer Leistungskontrolle drohen?
„Vergleich wozu?“ schwebt im Raum. War ich das? Nein. Ariane schaut mich mit flaschenentleertem Mate-Gesicht an. „Ach, Sie meinen die Gedenkminute … wegen Paris … Sollten wir die nachher auch einhalten?“ Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich wünsche mir, Heinrich Heine wäre hier und würde mir die Hand halten. „Das ist mir alles so egal … das ist alles so sinnlos … diese Trauerhysterie … in allen Medien … 14 Tage später ist alles wieder vorbei.“ Mia Holl aus Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“ – ebenfalls „Lehrplanstoff“ – wird zum Tod durch Einfrieren verurteilt. So fühle ich mich beim Anhören von Arianes „Statement zum Terror“.
Innehalten. „Einhalten? Ihr müsst überhaupt nichts einhalten. Aber könnte durch diese ‚Solidaritätsflat‘, diese ‚Freiheitsbekenntnisdauerschleife‘ zu den Pariser Ereignissen vom November nicht genau das Gegenteil erzielt werden?“ Köpfe heben sich von Bänken. Augen und Ohren beginnen sich zu öffnen. Aha, irgendwo ist der Weg, wenn das Ziel umrissen scheint. Gegenteil, welches Gegenteil? „Ihr seid das Gegenteil. Indem ihr die Abstumpfung nicht seht, die ‚Erosion der Aufmerksamkeit‘.“ Fragende Blicke, zu früh gefreut. „Klingt ja mächtig lyrisch, Herr Jopp.“
Poetisch, Max, poetisch.
„Und als ich an die Grenze kam, da fühlt ich ein stärkeres Klopfen in meiner Brust, ich glaube sogar, die Augen begannen zu tropfen.“ Ein Schüler der 8. Klasse erklärte mir daran einmal den Mauerbau ´61… Die Gefahr besteht in der 12. Klasse nicht mehr. Oder? Weiter mit Heinrich Heine und seinem „Wintermärchen“. Er sieht sich als politischer Flüchtling verschärften Grenzkontrollen ausgesetzt, der Führer der „Heiligen Allianz“ zur Sicherung der bestehenden Ordnung, der Fürst Metternich hatte den „Anschlag von Mannheim“ 1819 genutzt, die „Karlsbader Beschlüsse“ – eine Ansammlung den Verordnungen nach der Formel „Sicherheit vor Freiheit“ – ins Werk zu setzen. Sie sahen vor, eine Schicht von Privilegierten zu schützen. Eine Bevölkerungsmehrheit hingegen war und blieb rechtlos.
„Aber Heine war kein Terrorist.“
Na endlich. Der Motor ist angesprungen. Mit „Starthilfekabel“. „Wintermärchenbereift“ gewissermaßen. „Das finden Sie witzig?“ Nein, die Eitelkeit der zu erhaschenden Pointe verfolgte mich. Denke ich. „Dann können Sie auch jedes x-beliebige Beispiel aus der Geschichte nehmen und uns damit zeigen, dass wir nichts wissen.“ Falsch. „Nicht jedes ‚x-beliebige‘, nur das mögliche.“ Jetzt wird zurückgeschossen. „Ich denke, Heine hat vor dem Deutschland, was ihn erwartet, Angst, er freut sich nicht auf sein Vaterland. Warum eigentlich?“ – „Aber Sie widersprechen sich. In Deutschland regiert die Restauration, haben Sie gesagt, Heine war kein Terrorist, aber er kritisiert die herrschenden Mächte?“ Alles klar, Vincent, neues Ziel, neues Glück.
„Geschichte ist keine Erklärungsfolie für Gegenwärtiges, da in der Vergangenheit andere sozioökonomische Verhältnisse herrschten.“ Triumphierendes Grinsen auf der Gegenseite. „Aber sie dient als ‚Lehrfilm‘ für politische Ereignisse und deren Instrumentalisierung unter bewusster oder unbewusster Verkennung der wirklichen Ursachen.“ Aber deswegen abstumpfen oder gar aufgeben? Verkennen, welche Probleme wir „außerhalb“ des Terrorismus haben, dass wir unsere „freiheitlichen Werte“ in Zeiten einsetzenden Kaufrausches vor Weihnachten erst dann schätzen, wenn „unsere freiheitlichen Grundlagen“ gefährdet erscheinen?
Hier passt er wieder, Heines Gedankenvorgänger und „Menschenerzieher“, Humanist Schiller: „Zufrieden, wenn er selbst der sauren Mühe des Denkens entgeht, lässt er andere gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen, und geschieht es, dass sich höhere Bedürfnisse in ihm regen, so ergreift er mit durstigem Glauben die Formeln, welche der Staat und das Priestertum für diesen Fall in Bereitschaft halten.“
Denkstrecken. Und welcher führt zur Wahrheit?
Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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