Sich verändern. Ständig. Tun wir das? Aber sicher! Ständiges Umziehen (Wäsche wechseln), Umziehen (Wohnung wechseln) und Herumziehen (Um die Häuser ziehen). Wir sind in Bewegung. Und wir „Chillen“. (Klingt immer leicht drogenabhängig, oder?) Wir wandeln uns. Und wenn, dann richtig. Alles konsequent, perfekt, radikal. Ins Extreme gesteigert. Warum tun wir das?
Im Moment sind wir gerade „friedliebend“. Stehen auf begrenzten Krieg. Wir haben ja nicht angefangen. Niemals. Jetzt wünschen wir der Pest den Tod an den Hals. Wir posten dem Nachbarn das „Peace-Zeichen“ – eigentlich steht das zeigemittelfingergespreizte „V“ für „Victory“, aber wer weiß, vielleicht heißt es ja „Sieg für den Frieden“ oder „Siegfrieden“ – wir posten also der Nebenmannfrau Gesicht, dann in den Himmel, später ins soziale Netzwerk. Gegens asoziale Netzwerk des Morgenlandes. Den Terror im Land der Frühaufsteher. „Sie sind aber sarkastisch, heute Morgen, Herr Jopp.“ Ja, das bin ich. Warum tue ich das?
Schauen wir denn genau hin, wenn trauern, ängstlich sind, verwirrt im Solidaritätsrausch? Vorschnell feststellend: „Eines aber weiß ich: Dass ich blind war und bin sehend geworden.“ (Joh 9, 25) Allein wenn wir von Kausalitäten und wechselseitigen Zusammenhängen ausgehen – welche „Schuld“ – oder besser – Verantwortung tragen wir für unser Leid und uns aufgezwungene Trauer? In der Hauptstadt der bürgerlichen Revolution und daheim. Sind wir moralisch, ganzheitlich als Gesellschaft libertär-freiheitlich-gerecht? Und wenn wir uns verwandeln, dann friedlich. Wir töten nicht. „Einen Menschen aus dem Lebendigen zu vertilgen, weil er etwas Böses begangen hat, heißt ebensoviel einen Baum umhauen, weil einer seiner Früchte faul ist.“ (F. Schiller, Über die Gesetzgebung des Solon und Lykurg, 1790) Warum verwirre ich sie, meine Schüler?
Immer wenn die „Klassiker“ im Deutschunterricht mal wieder „dran sind“, krempele ich mittlerweile die didaktischen Ärmel hoch. „Das gefällt Ihnen, was?“ grinst – ja, wer schon? – mich an. Ja, das „gefällt mir“. Nicht nur, weil die deutsche Klassik für die Schüler nach Rollator und Voltaren riecht, nein, weil sie die Chancen und Gefahren der „Postmoderne“ vorausahnte und sah, dass „ … eben das ihn zum Menschen macht, dass er bei dem nicht stille steht, was die bloße Natur aus ihm machte, sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm antizipierte (vorwegnahm), durch Vernunft wieder rückwärts zu tun, das Werk der Not in ein Werk der freien Wahl umzuschaffen, und die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu erheben.“ (F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1793)
Klingt kompliziert, so gar nicht „geiz-geil“ und „chillig“ für die eigene Schnäppchen-Seele – „physisch“ und „moralisch“ – klingt eher nach Motivationsseminaren für „Hornbach“-Philosophen. Und ist andererseits so plausibel, weil es die Möglichkeit einer wahrhaften Wandlung beschreibt. Weg von unserer „Natur“, der Kollektivbestürzung hin zur „reflektierten Natur“ des Verstehens von Zusammenhängen. Vom Reflex zum Reflektieren.
„Könntest du dich jetzt einmal von deinem haptischen Reflex befreien, Anna?“ Blitzschnell sind Handy und Hand in der Tasche verschwunden und der „Faust“ liegt auf dem Tisch. Der „Faust“, ja. Was hat der mit Paris zu tun? „Viel zu viel“, sage ich. „Der Tragödie erster Teil“. Faust der arbeitsame Streber, der „Wissenschaftskarrierist“, der Perfektionist – was hat der mit Terroristen zu tun? Auf den ersten Blick und in erster Linie nicht viel. Er nutzt doch nur die Möglichkeiten der Selbstentfaltung, ist dabei arbeitsethisch gut drauf – „Willkommen im Land der frühen Vogelfänger!“ – und – jammert herum. „Habe nun, ach, … gelernt, gebaut, gesichert, studiert, mich fort- und weitergebildet …“ Klagende Ehrlichkeit in vier Wänden. „Da steh ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor.“ Mit schmalem Gehalt im Wissenschaftsbetrieb, aber immerhin reicht es für die autonome Haushaltführung eines kauzigen Singles. Mehr Sein als Haben. Eigentlich nicht ganz verkehrt. Aber dennoch: „Warum ein unerklärter Schmerz Dir alle Lebensregung hemmt?“ Depressiv, verunsichert, wandlungswillig – aber wie? Und vor allem: Wohin?
Hin zum Weihnachtsmarkt, wo „ … behend sich die Menge durch die Buden und dann Bäume zerschlägt“? Dort hört man es, das „zufriedene Jauchzen von Groß und Klein“. Dort darf der Mensch „ganz Natur“, eben ganz „Mensch“ sein. Goethes tragischer Held schaut da nur zu. Ist beinahe neidisch auf die Unbekümmertheit, die Unbeschwertheit, das leicht Naive. Aber er will mehr. Noch will er wissen, „ … was die Welt im Inneren zusammenhält.“ Und findet keine Antwort. Denkt „Im Anfang war die Tat!“ und holt sich – nicht die „universellen Werte“ der Religionsstifter, nicht die Denker des Abendlandes, nein, er macht einen auf „Super-Individuell“, denkt ganz zuletzt nur an sich selbst – und wen wünscht er sich an seiner Seite?
Einen „Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“? Klasse. Jetzt kommt der „ … Geist, der stets verneint. Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht; drum besser wär’s, dass nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz, das Böse nennt, mein eigentliches Element.“ Ist das „Freiheit“? Was folgt, sind Ausschweifungen, „Lebensqualität“ und „Liebesglück“. Das ist der Faust bei Goethe, der sah, wohin es führt, wenn die Freiheit für etwas „Für-immer-Geschenktes“ gehalten, wenig dafür getan wird. Vorgriff 2. Teil: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.“ Noch Fragen?
„Sind Sie der ‚Zauberlehrling‘, Herr Jopp?“ Die Frage von Max hätte ich mir gewünscht, zugegeben.
Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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