„Also dafür hab ich kein Verständnis! Bei aller Liebe … Ich seh’ überhaupt nicht ein …“ So baut sich bisweilen die pädagogische Indianersquaw mit dem allegorisch klingenden Namen „Hochroter Kopf“ im Lehrerzimmer auf. Aufgrund der strategischen Kurzsichtigkeit der sächsischen Bildungspolitik hat man da als „junger Mann“ in der Schule oft die Brille auf. Da übermannt, pardon, „überfraut“ einen jetzt im nahenden Winter schon manchmal so etwas, so ein kleiner Eishauch pädagogischen Bodenfrostes. (Keine Angst, es wird ein milder Winter.) Auch wenn es den Hauch von „Strukturvermittlung“ oder „Konsequenz“ hat - die Unerbittlichkeit lässt einen kurz frieren.
Um der Kolleginnenschelte gleich von vornherein den Zahn zu ziehen: Trotz oder aufgrund der Frauen-Überbelegung der „Pension Schule“ – letztere ist ohne weibliche Essenzen gar nicht denkbar. „Häh?“ stirnrunzelt Ariane und schiebt sich eine Dreadlocksträhne hinters Ohr. Was? „Klingt irgendwie nach Mittelalter.“ Wahrscheinlich schaue ich auch gerade wie ein Bettelmönch aus der Zeit. „Dann hast du wenig verstanden.“ Blöder Satz. Zurück zu den Essenzen. Wo waren wir? Bei den weiblichen. In diesem speziellen Fall jugendliche 17-Jährige, bekennende Feministin, mutig auf den Straßen gegen Menschenfeinde, rhetorisch überdurchschnittlich. Und was noch wichtiger ist: Fragend – wirklich individualistisch – gut. Und doch glaube ich an den Kampf und die Verbindung der Unterschiede, an die Dialektik von Einheit und Gegensatz, Winter und Sommer, Goethe und Schiller, Humanismus und Gleichgültigkeit. „Was meinen Sie?“ – „Realität.“ Nicht leicht zu verstehen.
Essenz. Das bedeutet Wesen, Kern. So notwendig, wie überflüssig zu betonen? Ja. „Schauen wir uns den ‚Hamlet-Monolog‘ an.“ So fordere ich die Schüler auf. „Geht’s nicht noch moderner? War nur’n Spaß.“ Max wieder. Welchen ich meine? Natürlich den, den alle kennen. „Aber ich habe ihn neu erfahren, als ich den Psychoanalytiker Arno Gruen las. Er brachte mir den Hamlet noch anders bei.“ Gruen schrieb „Dem Leben entfremdet“ (2013) und Hamlets innerem Kampf von (weiblicher) umfassender Bewusstheit und (männlicher) Begrenztheit. Sein oder Nicht-Sein. Vergebung oder Rache? Konsequenz oder nachsichtige Korrektur? Natürlich will Hamlet konsequentes Bestrafen. „Hamlet: Ob’s edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden oder, sich waffnend gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden?“ Hamlet – ein tragischer Held.
Verstehen. Schließt vorheriges Nicht-Verstehen ein. „Das sage ich meinem Chemie-Lehrer!“ tönt Vincent von hinten und grinst wie ein bauchiger Erlenmeyer-Kolben. (Das sind die Dinger, die immer aussehen wie alte Weinballons.) „Du verstehst die Naturwissenschaften nicht? Das verstehe ich gar nicht“, antworte ich ihm zurückgegrinst. Die Schüler haben schon mitbekommen, dass ich in meiner Abiturzeit am liebsten Mathematik, Chemie und Physik abgewählt hätte. Nur gab es ja bekanntermaßen keine freien Wahlen in der DDR. Also kann ich ihnen heute nur von krachenden Einbrüchen und feixenden Klassenkameraden erzählen, wenn ich zur Kurvendiskussion – und das war leider keine napoleonische Generalstabssitzung – an die Tafel musste und den Golgathaweg an der Nullstelle ging. Da lach(t)en alle. Aber immerhin konnte ich seinerzeit Lehrer ordentlich beschäftigen. Manche Schüler – auch solche gibt es – können heute nicht einmal das. („Hausaufgaben? Hatten wir welche?“)
Das muss man verstehen. Die Schule zeichnet ein prototypisches Bild der Gesellschaft. Noch bildet sie zu wenig vor, allzu oft ab. Wir können und sollen nicht gleichzeitig ein Gegenteil von uns sein, und auf lange Sicht beanspruchen. Uns Lehrern ist das Bewusstsein für Schwäche nicht immer bewusst, die Präfixe „unter-un-nicht-“ mögen wir gar nicht. (Damit werden Andere zensiert.) Nach Gruens gewagtem Diktum von „männlichen“ und „weiblichen“ Essenzen doch eigentlich falsch gedacht? Ist die Schule tendenziell weiblich, „überfraut“, müsste sie doch heutzutage nicht vor Klassenstärken, sondern aufgrund überbordender Empathie und weitsichtiger Lebensfreude aus allen Nähten platzen?
Das muss man nicht verstehen. Oder doch? Denn ich erinnere mich. Ich erinnere mich, das ich einmal neugierig auf das Fremde war, das wirklich Fremde, bei dem ich zwischen Reiz und Risiko nicht unterscheiden konnte. Dass ich selber bestimmte Dinge überwinden konnte, die ich vorher selber vergaß, die ich vorher geringschätzte, weil sie in mir Unwillen hervorriefen, in „Fächern“, die mich langweilten. Heute weiß ich, dass Goethe Recht hatte, wenn er in einem Aufsatz schrieb: „Jedes Ding wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.“ Ja, er hat Recht damit, Verständnis für das Unbekannte, Abwegige zu entwickeln. Ganz offensichtlich? – „Woher wollen Sie das wissen?“ – So konsequent es offensichtlich abzulehnen ist.
„Das verstehe ich.“ Raunt mir Ariane leise zu. „Aber soll ich dann etwa für alles Verständnis haben?“ Wozu?, frage ich. „Dann verstehst du nicht, dann ahmst du nur nach. Dann täuscht du ein Verhalten vor. Du musst es begreifen. Das strengt an. Das hält aber auch jung.“ Wie macht sich das Verstehen des Gegensätzlichen denn bemerkbar? Und überhaupt, was soll das bringen … Fragen über Fragen. Ich muss reagieren. Nur heute nicht mehr.
„Wandlungsfähigkeit“. Das wird das W. Versteht sich.
Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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