Meine Oma ist noch „Omnibus“ gefahren. Sie meinte damit ganz normale Linienbusse zwischen Engelsdorf und Leipzig. Heute ist vieles „omni“, der Bus ist es immer noch nicht. Heißt jetzt „72“ statt „Linie E“. Heute ist alles „mehr“, mehr Busse, mehr Fahrgäste (?), mehr Geschwindigkeit. Natürlich auch mehr „omni“. Heutzutage ist man „omnipräsent“, „omniversichert“ und – nicht zu vergessen – omnipotent. Meine heutige Grußadresse richtet sich an alle fleißigen Erzieherinnen und Erzieher.
Ich bin mir im Klaren darüber, dass ich die Ausmaße und Belastungen der Omnipräsenz mancher vor allem Kolleginnen in unserer „Bildungspolykratie“ kaum ermessen kann. Ich weiß nicht genau, wie man sich fühlt, wenn man frühmorgens in kalte Auto steigt, die eigenen Kinder noch stadtdiagonal durch die Umgehungsstraßen karrt, und die „Leonies“ und „Sarah-Charlottes“ auf der Rückbank zu tanzen beginnen … Ich kann nur ahnen, wie es der Kollegin geht, die von weltmeisterlichen Hupkonzerten am Morgen, teilweise unter Lebensgefahr auf dem Fahrrad (im vorwurfsvollen Betätigen der eigenen Sondersignalanlage im Auto sind die Deutschen wirklich Weltmeister) dann Geräusch- und Frustrationskulissen ausgesetzt sind, die einen glauben machen, als schickten wir unsere letzten Reserven in den Krieg. „Potent“, nicht ganz „omni“. Ich bin mir meines soziokulturellen Privilegs durchaus bewusst, Jugendliche zu bilden und zu erziehen, die … anders sind.
Ja, sie lesen besser, sind friedlicher, neigen weniger zu schulhäuslicher Gewalt. Am Gymnasium. Sie strengen sich an beim „Solidaritätssportfest“, aktuell „Sponsorenlauf“ genannt, beim dem man sich heute eine renovierte Innenausstattung unserer stark sanierungsbedürftigen Bildungshaushalte zusammenrennt. Immerhin rennt man noch zusammen, feuert den Mitschüler an, bedankt sich beim omnipräsenten Sportlehrer. Selbst der Schulleiter läuft mit, mit einer beachtlichen Rundenanzahl, als wollte er anschließend ganze IKEA-Niederlassungen leer kaufen.
Beeindruckend, die Kraft der Ausdauersportler zu sehen. Aber es gibt doch Auffälligkeiten. Auch und vor allem innerhalb der gymnasialen Elite. Sind die „Kleinen“ wirklich im „Laufflow“, denken gar nicht daran, dass sie beobachtet werden, rennen, als ginge es um ihr Leben, neigen die „Großen“ eher zum Omnipotenzgehabe. Und dazu gehört dann auch die „Scheinpotenz“, die „Mehr-scheinen-als-zu-sein-Potenz“. Zumindest scheint es so. Man ist umfassend-ganzheitlich. „Wo willst du jetzt hin?“ – „Ich muss noch meine Haare machen.“ Sagt Maximilian. Nach zwei Minuten wird veränderungsunsichtbar jetzt aber mit hochgezogenen Augenbrauen wieder erschienen und das „Funktionsequipment“ optimiert. „Omni“ scheint nun sehr wichtig zu sein. Man ist alles: Individuell-teamorientiert-schnell-durchsetzungsfähig-siegesbewusst im Handeln-langsam-auch mal oppositionell. Selten bei sich, selten beim Wir. Mehr beim Ich-Ihr. Das mag der eigenen Sichtweise geschuldet sein, richtet diese sich jedoch instinktiv auf das hinteren Laufdrittel der „Sprintergebreselassies“.
Sie wissen nichts mit „Omnipotenz“ anzufangen. Die rennen nicht, die kämpfen und halten durch. Laufen durch. Manche stützen verzweifelt ihre Hände in die Hüften. „Gucken Sie doch nicht so kritisch“, erinnert mich Caro an meine Vorbildpflicht. Ja, man erwischt sich selbst im „Qualitätsmanagement“ des eigenen Anspruchs, des egomanen Messens und Vergleichens der eigenen Potenz – ich nenne es neuerdings meinen Schülern gegenüber „potenzielle Energie“, das klingt eindeutiger und zeigt die latent vorhandene und nicht die tatsächliche Kraft und Stärke. Kurz, jeder von uns neigt (in unserer Kultur?) zum Abgrenzen, zum Nicht-Verstehen des Gegenübers. So natürlich das auch ist, so unnatürlich sind oftmals die gezogenen Schlüsse.
„Dann müssen sie eben mehr … weniger … gesünder … ordentlicher … organisierter …“ Ist das nun richtig, das Streben nach all umfassender Macht und Gewalt über sich und andere? Einerseits ja, wer möchte nicht Erster sein? Gewinner sein, anerkannt sein, fit und gesund sein? Aber „The Loser standing small …“? Dann sind wir doch alle mindestens einmal „klein“, im hinteren Laufdrittel. Irgendwie schwach, irgendwo mittelmäßig, irgendwann faul. Intuitiv wissen wir das, unser Verstand läuft uns indes davon. Will Marathonläufer aus uns machen. In neuer Rekordzeit. Alles läuft – alles vorn – alles schick. Sind wir das?
„Es gibt keinen, der nicht in irgendetwas der Lehrer eines Anderen sein könnte, und jeder, der irgendjemanden übertrifft, wird selbst noch von einem anderen übertroffen werden.“ Baltasar Gracián, der spanische Moraltheologe in seinem „Handorakel oder Kunst der Weltklugheit“. Gesundheitlich ruiniert starb er 1658 im Jesuitenkolleg von Tarazona. Ziemlich klug, der Bursche.
Und noch heute „omnipräsent“.
Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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