„Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen.“ Im Namensgeber meiner Schule, Friedrich Schiller, finde ich immer wieder gedankliche Hilfe und gelegentlich Unterstützung in der Arbeit. Schiller schrieb „Ästhetische Briefe zur Erziehung des Menschen“. Während der Revolution, der französischen. Im Frühsommer des Jahres 1793. Zur gleichen Zeit putschte eine Gruppe linker Jakobiner gegen die gemäßigte liberaldemokratische Regierung der bürgerlichen Mitte und errichtete eine blutige Gesinnungsdiktatur. Oder trieb sie die Revolution voran, mit Mindestlöhnen und Maximalpreisen für Lebensmittel?
Wehrte sie den konterrevolutionären Ansturm ab, zu welchem bereits ein Jahr zuvor die gekrönten Häupter Europas von Wien bis Koblenz ansetzten? Unter dem Rechtsanwalt Maximilien Robespierre, dem „Tyrann der Tugend“, den Schiller in einem Brief an Körner im Februar 1793 zusammen mit seinen politischen Freunden als „Schindersknecht“ bezeichnete. Was ist richtig?
Von persönlichem Nutzen konnte bei Robespierre mitnichten die Rede sein. Selbst seine Feinde spöttelten über ihn als den „Unbestechlichen“. Dann schon eher von Neigung. Von der Neigung alles zu politisieren, am liebsten jeden der 25 Millionen Franzosen zu befragen: „Bist du für oder gegen uns? Bist du für die Freiheit des kleinen Mannes oder dagegen? Sollen wir weiterhin Knechte von Privilegierten oder Spekulanten sein, es bleiben, oder nicht?“ Den Jenaer Geschichtsprofessor stieß diese abstrakte, revolutionäre Rhetorik ab. Ihn widerte es an, wie man den Gedanken der Freiheit pervertierte, indem man wieder Menschen qua politischem Stand oder Klasse in Gut und Böse einteilte. Was war da neu? Zugleich musste sich der Autor der „Räuber“ und des „Don Carlos“ von seinem Geschichtsoptimismus verabschieden – die Massen seien es nicht, die das Rad der Geschichte vorwärtsdrehen, wenn man sich gerade bei revolutionären Umwälzungen vergegenwärtigt, dass der „freigiebige Augenblick ein unempfängliches Geschlecht [findet].“ Weiter heißt es bei ihm: „In seinen Taten malt sich der Mensch.“ Schiller 1793 an einen dänischen Prinzen, den er als „Sponsor“ für die Arbeit an den „Ästhetischen Briefen“ gewann.
„In seinen Taten malt sich der Mensch.“ Was bedeutet das heute? Wobei hilft uns der alte Schiller? Müsste er nicht eher „dekonstruiert“ und „modifiziert“ daherkommen? Etwa so: „Mit konstanter Neigung zum persönlichen Nutzen“? Schaue ich mich in unseren Bildungseinrichtungen um, dann denke ich manchmal, dass viele meiner Mitmenschen den Wahlweimaraner eher klassisch und seine Programmatik rein idealistisch, pardon, rein individuell verstehen. „Mach was (aus dir), dann biste was und haste was!“ Am Ende hat er diesen Idealismus, diesen deutschen, sogar erfunden, wie Rüdiger Safranski 2005 philosophierend behauptete. Menschenskind. Schillers Kunstethik als Leitfaden und Benutzerhandbuch für künftige Bills, Steves und andere Job(b)s. Dann fix eine Stiftung für sozial Benachteiligte gründen – das ist gut für die Reputation und das „Marketingselfie“. Außerdem: Für alle öffnen sich ja nun mal nicht gleichzeitig alle Fenster. Und schwupps, der persönliche Rechner des finanziellen Ruhms läuft. Läuft mit frischem Upgrade, das auch für den Kleinbürger nicht nur der französischen, sondern auch aus der sächsischen Provinz bezahlbar ist. Ist das Schiller im 21. Jahrhundert? Für unsere Schüler?
Das ist Nutzen. Keine Neigung. Das ist die Monokultur des individuellen Aufstiegs. Das bedeutet: Setz dich durch, achte zuerst auf dich, belächle mitleidig die Schwachen und Schwächsten – handle gegen die Natur des Menschen. „Daher wird es jederzeit von einer mangelhaften Bildung zeugen, wenn der sittliche Charakter nur mit Aufopferung des natürlichen sich behaupten kann; und eine Staatsverfassung wird noch sehr unvollendet sein, die nur durch Aufhebung der Mannigfaltigkeit Einheit zu bewirken im Stande ist.“ So Schiller weiter im 4. „Ästhetischen Brief“. Eine „Staatsverfassung“? „Vielfalt der natürlichen Charaktere“. Das klingt nicht nur gut.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich schreiben wir mit Erfindungen, arbeiten mit Leistungen, profitieren wir von den Schillers, Einsteins und Newtons unserer Zeit. (Wovon wurden sie eigentlich inspiriert? Etwa vom ökonomischen Nutzen?) Von Technikern, Tüftlern und Wissenschaftlern. Eine „Beamer-Präsentation“ im Schulunterricht ist heute für den normalen Schüler so aufregend hinzubekommen und hinzunehmen wie die Physiotherapie für mittelalterliche Pädagogen. Aber geht es da nicht mit einem Stück mehr Fortschritt hinsichtlich a) persönlicher Neigung und b) kollektivem Nutzen?
„Wieso 4? Ich hab doch alles gewusst, eigentlich hätte ich eher eine 2 verdient!“ Das „Leistungsverhalten“ des Schülers Knebel in der „Feuerzangenbowle“, der den Spiegel seines Klassenkameraden Pfeiffer nutzt, bleibt im Verhandlungsgeschick bei der Notenermittlung zu oft allgegenwärtig. Auch heute noch. Ich bin mir nicht sicher, was oder wen Schiller meint, wenn er schreibt: „Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an!“ 1797 aus dem „Musenalmanach“. Muss man ihn wirklich heute anders lesen? Anders rezipieren?
Schiller. Er nennt es „Pflicht für jeden“.
Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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