Kofferpacken ist bei den Großen angesagt in dieser Woche. Die Bildungsfahrten in der Kursstufe stehen an. England, Italien, Malta, Usedom – je nach Gewöhnungs- und Finanzlage in der Familienhistorie werden die Gesichter verzogen oder hellen sich in meiner ersten Unterrichtsstunde je nach unklarem Motivationsnebel auf. Kafka ist auch angesagt. 12. Klasse. So nebenbei.
„Der ist jetzt nicht so viel herumgejettet, mehr noch, er hielt sich am Ende seines kurzen Lebens mehr in Sanatorien auf.“ – „Der ist ja auch nicht so alt geworden. So wie Sie.“ So grinst Max. „Ja, sein Leben war wohl nicht so glücklich und eine ‚marketingtechnische‘ Meisterleistung beim Verkaufen seiner Person hat er wohl auch nicht vollbracht, wenn er seinen vertrauten Freund Max Brod bat, alles zu vernichten, was er geschrieben hatte.“ Antworte ich und freue mich, dass meine bildungsseelsorgerische Maschine endlich Fahrt aufzunehmen scheint. Vorne meldet sich Marlene mit blass geschminktem Gesicht. „Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihre Hausaufgaben vergessen.“
Rums. Da waren sie wieder, meine drei Probleme. „Entschuldigen Sie“ – bei mir? Bin ich Aufseher in Alcatraz und „Mr. Bad Guy“, dass ich hier Arbeiten für den intellektuellen Steinbruch verteile? „Ihre Hausaufgaben“ – als bekäme ICH tausend Konsumküsse geschenkt, weil DU DEINEN Bildungskorb durch die endlosen Reihen der „Deutschsprachigen Literatur“ des 20. Jahrhunderts“ schiebst? Ach ja, und „vergessen“. Sind wir hier im Seniorenheim „Glückliche Zukunft“? Vergessen. „Frau Schneider, Sie haben heute schon wieder vergessen, dass es Suppe gibt. Heute ist doch Montag.“ Verdrängt, das wäre doch der ehrlichere Ausdruck. „Herr Jopp, ich habe meine Hausaufgaben verdrängt. Sie schienen mir nicht so wichtig zu sein. Ansonsten bin ich aber einigermaßen perfekt.“ Besser so?
Ruhig bleiben, „breit machen“ versicherte mir zuletzt ein junger Berufskollege, der sich nun als ausgebildeter Gymnasiallehrer an einer Förderschule versuchen darf. Hat er sicherlich Recht mit seiner Autosuggestion, denn nach ihm geworfene Schultaschen kann er ja schlecht als pädagogische Antwort zurückwerfen. Ein Muster. „Den Ball zurückspielen“ – das passt eben nicht immer. Meine Marlene hat andere Antworten verdient. „Was meinst du, unterscheidet dich, uns, von Kafka?“ Jetzt schaut sie, als hielte sie mich für sanatoriumsreif. „Weiß nicht, keine Ahnung … vieles … sicher …“ Verunsichert sie. Halb gewonnen, zuckt es in mir. Jetzt noch einen hinterher, dann gehören die Höhen der selbsterziehenden Einsicht mir. „Glaubst du nicht, dass es Menschen gibt, die trotz erheblichen Zweifels an ihrer Arbeit weiter ‚dran blieben‘, mehr in sich suchten als diese unvollkommene Welt damit zu ändern versuchten, indem sie sich ihr verweigerten?“ Das Ergebnis meiner Bergpredigt auf der vermeintlichen Höhe ist einigermaßen ernüchternd. Strahlende Einsicht beim Empfänger sieht anders aus. Stattdessen gibt es ein indifferentes „Hmhm.“ Weiter geht’s. Ruhig bin ich nicht. Vielleicht etwas breiter.
Muster und Makel. Wo liegt denn da der Unterschied? Wie hoch ist der egoistische Schutzwall, welcher selbstzufriedene Arroganz und selbstzweifelndes Unbehagen voneinander trennt? Wen fragt man da? Den „Makler“? Wer soll das sein? „Na Sie!“ trompetet Max durch die Klasse. „Wir können doch nur Ihnen vertrauen, Sie müssen uns zeigen, was wichtig ist und was nicht. Und uns dafür begeistern.“ Noch irgendwas, denke ich fragend, vielleicht noch alle Rollen in Kafkas „Prozess“ selber spielen? Kinderspiel. Verantwortung müssen sie lernen zu übernehmen. Klingt „uncool“, ist aber so. Das könne ich ihnen nicht abnehmen, entgegne ich. Das sei ihr „Job“. Und auch intelligente „Entschuldigungen“. Das perfektioniert man im Laufe seines Lebens, vielleicht geschieht das auch ganz von alleine, unbewusst praktisch. Mit guter, humanistischer Bildung etwas schneller.
Das lernt man, wenn man offen durch die Welt geht, sehenden Auges, sich Zeit lässt, nicht wie Erwachsene bisweilen hektisch und effizient durchs „Bildungskaufland“ hetzen. Meinen Korb sollte ich ständig bei mir haben, nicht „klauen“, sondern bezahlen lernen. Ob in London, Venedig oder auf Malta. Malte, mein intellektueller Primus, hat schon bezahlt. Ja, er kann alles, weiß alles, tut (fast) alles. „Malte, was tust du noch?“ frage ich ihn. Auch er schaut so, als ob ich die erste Pflegestufe im Sanatorium verordnet bekommen müsste. Denkt vermutlich, es würde reichen, wenn man es selbst verstanden hätte, die anderen würde es sowieso nicht kapieren. Er weiß, was er kann, was er weiß, was er tut. Was kann ich ihm denn noch sagen? Mit auf „den Weg geben“?
Vielleicht einen Kafka zum Schluss?
„Alle menschlichen Fehler sind Ungeduld, ein vorzeitiges Abbrechen des Methodischen, ein scheinbares Einpfählen der scheinbaren Sache.“ Da bräuchte ich keine Angst zu haben, er sei sich schon ziemlich sicher, wie es weitergeht, man muss eben wissen, was man will. So mein Malte. Auch der Chinesisch-Kurs am Nachbargymnasium sei „durchaus wertvoll“. Da verliert man fast die Lust am Rückspiel, grummele ich innerlich. Und meine Tasche hinwerfen kann ich auch nicht. Nur einen Satz von Karl Kraus, meinem Freund des kunstvoll-zynischem Aphorismus, der mit dem Blick auf eine schöne, perfekte Frau anmerkte: „Zur Vollkommenheit fehlte ihr nur ein Makel.“
Ich sehe sie die Koffer packen. Ich hoffe, sie sind in Gedanken noch eine Weile dabei. Bei Muster und Makel.
Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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