„Der Lehrerberuf erfordert eine Balance zwischen verstehender Zuwendung und Führung. Verstehende Zuwendung bedeutet, den einzelnen Schüler nicht nur unter dem Aspekt seines schulischen Könnens (oder seiner schulischen Schwächen) zu sehen, sondern auch und vor allem als Person, das heißt seine Motive, sein Bemühen, sein Verhalten, seine emotionalen Stärken ebenso wie seine problematischen Seiten wahrzunehmen. Dabei vermeidet sie Kränkungen, Demütigungen und Bloßstellungen. Führung bedeutet die Notwendigkeit, Werthaltungen zu vertreten, Ziele zu formulieren, Schüler zu fordern, als Lehrkraft mutig zu diesen Forderungen zu stehen und Kritik zu üben, Schülerinnen und Schülern dabei aber Mut zu machen und sie in ihren Anstrengungen zu unterstützen.“ (Joachim Bauer, Lob der Schule, Hamburg 2007)

Klug und richtig formuliert vom Freiburger Neurobiologen Joachim Bauer. (Wenn ich nicht Pädagoge an der Bildungsfront geworden wäre, so bestimmt Schreiber von pädagogischen Hand- und Schulbüchern. Von irgendetwas muss der Mensch ja leben.) Klingt gut, dieses „Verstehende Zuwendung … Ziele formulieren … Werte zu vermitteln.“ Fragen bleiben dennoch. WELCHE Werte und WELCHE Ziele? Die sind dabei nicht weniger bedeutsam als das tägliche Meditationsmantra, welches ich eingangs zitierte. Fördere ich das mehrheitlich-gesellschaftlich anerkannte Primat des größtenteils überflüssigen Konsums, variiere ich Descartes sinnentstellt „Ich kaufe – also bin ich!“? Bilde künftige Kleingrundbesitzer aus, frei nach einem 90er-Jahre-Werbeslogan „Mein Haus- mein Boot- meine Bank!“ Oder?

Selbst das „Entdecke die Möglichkeiten!“ eines schwedischen Dekorationsdiscounters trägt die Doppelbedeutung von Imperativ und abstrakter Motivation in sich, so dass am Ende oftmals eine teilresignative Erkenntnis bleibt: Schule muss bitter schmecken und sie nützt nichts. (Werbeslogans sind in ihrem tendenziellen „Lifestylecharakter“ als tragende Botschaften soziokulturell heute wohl kaum zu unterschätzen.) Das Problem nur dabei ist, dass sie dann allen bitter aufstößt. Die Schule. Und den Schul-Akteuren hier und da. Frustration, Härte und Zynismus hier – „Ich glaub’s nicht, Max hat die Hausaufgaben! Nun ja, Wunder gibt es immer wieder.“ Häme. Unverständnis. Handyfülle, Blickleere da – „Ich weiß es nicht. Ich denke nur, solchen Lehrern müsste man kündigen.“ Man weiß dabei gar nicht, welche Seite dabei  weniger kämpferisch ist. Die „erwachsene“ oder die „jugendliche“? Erraten Sie es. Vorsicht, „Hausaufgaben“ hat der Lehrer auch. Und nicht zu wenig.

„Ich betrachte meine Rolle und Aufgabe als Wissens-, Bildungs- und Erkenntnisvermittler, nicht als solche, euch möglichst stressfrei den Zugang zum komfortablen Konsumentenleben zu organisieren.“ So provoziere ich in die Nachwuchsreihen hinein. Immer und immer wieder. Wie eine morgendliche Verabreichung präoperativer Medizin. (Bei vielen Schülern übrigens auf nüchternen Magen, man glaubt es kaum.) Aber „nützt“ sie etwas, die Motivationspille trotz der bitteren Geschmacksnote? Ist sie überhaupt Medizin oder nicht eher ein Lokalanästhetikum? Zum Überstehen einer Stunde, eines Tages im Bildungswesen. „Bringt“ es etwas, Jugendliche von einem Weg abzubringen, der ihnen ein oder zwei Jahrzehnte lang als der „aller“ angetragen wurde? Brav ertragend, um ja nicht aufzufallen, damit alles glatt geht bis zum Einstieg ins Berufsleben. Warum sie mit ethisch-philosophischen Werten und Haltungen stressen? Es ihnen schwer zu machen mit „Verliere dein Ego und du wirst es gewinnen“? – „Oh, ich war am Wochenende so in ‚Stimmung‘, dass ich gar nicht mehr wusste, wer ich eigentlich bin. Meinen Sie das, Herr Jopp?“ Herr, gib mir die Kraft, Dinge hinzunehmen …  Vervollständigen Sie selbst.

Motivation, kooperatives Verhalten und menschliche Beziehungsgestaltung  – die Schulbürokratie gebraucht  das Theorem „Sozialkompetenz“ – diese Trias der überfachlichen Aufgaben fordert Bauer in seinem „Lob der Schule“ ein. Wieso eigentlich nur in der Schule? „Sie immer mit Ihrer ‚Freiheit‘.“ Grinst mich Victoria an. „Das ist schwer. Sie schwitzen ja selbst dabei. Und nicht zu wenig.“ Recht hat sie. Es geht darum, Menschen zu gewinnen, weg vom Muster des „Ich-mach-es-mir-zuerst-leicht-schwer-wird’s-von-alleine.“ Dann müsste es ja einem bei jeder neuen Herausforderung, auf Menschen zuzugehen, so dass sie ihrer eigenen Vorstellungen vom Leben und nicht die von Kaufhauskatalogen entwickeln, gleich bitter aufstoßen. Oder nicht, Victoria? Wozu sonst lesen wir „schwere“ Literatur von Außenseitern, Verlierern, Helden der Hilfe für Schwächere? Da kann man schon mal ins Schwitzen geraten. Sie jedenfalls setzt einen Blick auf, der glaubt. „Nein, damit wir wissen, was ein ‚Loser‘ ist.“ flüstert es von anderer Seite. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es wirklich gehört habe. Ich glaube nicht. Ich versuche, es zu verstehen. Mit Zuwendung.  Und lächle dabei.

Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

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