Ist Leipzig nun eine besondere Stadt? Hat die größte Stadt Ostdeutschlands – „Lassen wir mal Berlin außen vor.“ (OBM Jung) - auch ein besonderes Problem mit politisch motivierter Gewalt? Das ist keine Frage. Darüber waren sich die Teilnehmer des 6. Donnerstag-Diskurses am 14. April in zwei Stunden relativ schnell einig. Moderiert von Jessica Brautzsch (mephisto 97,6) arbeitete man sich durch die hinaufwindende Gewaltspirale in der Stadt, betrachtete nochmals die Ereignisse vom 12. Dezember 2015 und 11. Januar. Vor knapp 100 Zuschauern im großen Hörsaal. Allen voran Oberbürgermeister Burkhard Jung, der vor dem Hintergrund zunehmender Fremdenfeindlichkeit an politischer Kontur zu gewinnen scheint.

„Ich erhalte Beschwerdebriefe zu gesperrten Innenstadtzugängen, wenn nicht richtig eingekauft werden kann, aber niemand beschwert sich bei mir darüber, dass fremdenfeindliche Demonstrationen in unserer Stadt unterwegs sind.“ Bäriges Nicken vom Leipziger Polizeipräsidenten Bernd Merbitz, der bei dem Thema Gewalt in Leipzig „gar nicht weiß, wo er anfangen soll.“

Merbitz verweist auf die zunehmende Aggression auf den Straßen, erregt sich in kabarettnahem Duktus über die mangelnde Unterstützung durch kommunale Politiker. „Ich sehe hier außer dem OBM niemanden.“ Ihm zur Seite Oliver Decker, Sprecher des Kompetenzzentrums zur Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig. Merbitz: „Ich achte die Wissenschaft sehr, wirklich ganz toll.“ Schmunzeln allerseits über den verbal zurückgelehnten, dann wieder direkt zupackenden Polizeipräsidenten, der andererseits irgendwie authentisch und wohltuend wirkt, wenn er den zielgerichteten Hass auf Polizisten verurteilt. „Wir sind alle Menschen.“

Und: „Pflastersteine tun richtig weh.“ Einspruch aus dem Zuschauerraum. „Polizeiknüppel auch.“ Merbitz nickt. „Da reden wir gleich drüber.“ Sachliche, richtige Ergänzung von Gesinde Grande, Rektorin der HTWK. Sie fordert das verstärkte Engagement der Gesellschaftsmitte. Mit Aufklärung zur Demokratie und damit zur Gewaltprävention könne man gar nicht früh genug beginnen.

„Es ist unerträglich, was in den letzten Wochen und Monaten in unserem Land geschieht. Ich erlebe eine Zunahme an verbaler Gewalt, beinahe täglich erhalte ich Drohungen. Es scheint nicht klar zu sein, dass Sprache immer vorangekündigte Gewalt darstellt.“ Klare Worte von Jung, Zustimmung und Beifall bei der Forderung nach zivilcouragiertem Auftreten gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. „Leipzig ist eine weltoffene Stadt. Was würde für ein Signal aus dieser Stadt kommen, wenn die fremdenfeindlichen Montagsumzüge unbeantwortet blieben, kein friedlicher Gegenprotest stattfinden würde?“ Wieder Beifall. Hätte man sich ein Wort der Würdigung von Aktivisten gewünscht. Gut. „This is not a wish-concert“, würde Jürgen Klopp antworten.

Die Debatte an der Universität Leipzig im Video. Quelle: Universität Leipzig auf Youtube

Fragen, nicht „Hat Leipzig ein Gewaltproblem?“, sondern „Woher rührt es?“ und „Was kann man als Einzelner tun?“ tauchen vorsichtig in der anschließenden Diskussion mit dem Publikum auf. Von fehlenden Schulabschlüssen ist die Rede, Forderungen nach mehr oder weniger Polizeigewalt und schließlich dem Einfluss der Medien. „Schauen Sie mal in die Gesichter von Fußballspielern und -anhängern.“ Merkt ein älterer Zuhörer an. Es geht ziemlich durcheinander, wird emotional intensiver und man ist erstaunt, was den OBM so alles „umtreibt“. Wieder ist es Prof. Gesinde Grande, die den demokratischen Diskurs als die beste Möglichkeit der Problemlösung hervorhebt, Decker den Blick auf das Prinzip der Gewaltfreiheit und Unverletzlichkeit der Person im politischen Diskurs.

Jung: „Die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Justiz funktioniert nicht.“ Aha. Gewalt ist also doch nicht gleich Gewalt? „Wer eine genehmigte Demonstration, auch von einer politischen Richtung, deren Meinung mir überhaupt nicht passt, verhindert, macht sich strafbar. Punkt.“ Klingt martialisch, politisch indifferent bleibt es trotzdem. Entspringt das Bekenntnis zur Demokratie nicht ursprünglich einer humanistischen Grundhaltung, möchte man fragen. Welche staatliche Legitimation erfährt diese Grundhaltung, wenn sie praktisch gegen sichtbar zunehmende Menschenfeindlichkeit gezeigt, anschließend inkriminiert wird? Stoff für weitere Diskussion wäre also gegeben.

Zum Schluss noch einmal Oliver Decker. „Wie organisieren wir eine Verteilung des gesamtgesellschaftlichen Reichtums? Vor welchen strukturellen Veränderungen steht unsere Gesellschaft?“ Decker fragt nach den „Legitimationsgrundlagen“ unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, verweist durchaus richtig auf das vorhandene Gewaltpotenzial in Erziehung und Erwachsenwerden. Was machen wir da falsch und wie wollen wir das ändern?, möchte man weiterfragen.  Abschließend noch einmal der Polizeipräsident. „Wir haben so viele Studien zu Gewalt. Draußen ist die Wirklichkeit. Man kann sich auch verforschen.“ Wieder Schmunzeln.

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