Als schick und tiefgründig gilt heutzutage, wer sagt, dass er quasi nie fernsehe. Stattdessen wird gern mit wichtiger Miene verkündet, man hole sich höchstens und gegebenenfalls in der Mediathek was runter. Die Leute tun so, als sei das bloße Negieren eines (auch noch zu Unrecht) verpönten Mediums schon ein Qualitätskriterium an sich. Dies ist natürlich absurd, denn schließlich kann man ja in der Zeit, in der man NICHT in die Röhre guckt, auch viel Frevelhaftes leisten. Jack the Ripper z. B. hat doch gewiss nicht allzu viel ferngesehen und bekanntlich wenig Löbliches zustande gebracht.
Weil ich eben NICHT wie jemand daherkommen will, der als schick und tiefgründig gilt, traue ich mich schon gar nicht mehr zu erwähnen, dass mein TV-Konsum tatsächlich relativ gering ist.
Im Juni aber wird das Blatt sich wenden: Dann ist EM. EM ist hierzulande bekanntlich so etwas wie Weihnachten, Ostern und Erntedankfest zusammen. In Deutschland könnte dann vermutlich Putin auf der Insel Usedom einmarschieren, die Prostitution zur Staatsreligion erklärt, der Mindestlohn auf 1,50 € gesenkt, der Föderalismus oder Sachsen-Anhalt abgeschafft werden oder gar „Wir schaffen das“ als neue Nationalhymne intoniert … alles, aber auch alles würde mit einem seligen Schulterzucken quittiert werden.
Kurz gesagt: Während der EM bleibt die Mediathek kalt.
Von Kneipenwirten betreutes Fußballgucken wird das zurzeit stark gespaltene Deutschland wieder näher zueinander finden lassen, wenn junge Männer aus ganz Europa abermals eindrucksvoll demonstrieren werden, dass ein Ball für 22 Spieler schlichtweg zu knapp geplant ist. Da fühlt es sich schlichtweg besser an, beflaggt, bemalt und in einer Gemeinschaft zu sein, in der auch Frotteure endlich wieder einmal so richtig zum Zuge kommen.
Private Viewing ist diesbezüglich bei weitem gefährlicher: Deutlich habe ich noch die Bilder von 2010 vor Augen, als die Fußballwelt in Südafrika aufzulaufen beliebte. Als damals wieder einmal zurückgeschossen wurde und international bekannte, o-beinige Männer bei ihrem mehrwöchigen Wettstreit um den Ball mein Fernseh-Interesse entfacht hatten, hatte ich in einer Halbzeit ungeschickt mit der Fernbedienung herumgestikuliert und war bei RTL II gefangen genommen worden.
Der Sender wartete gerade mit einem juvenilen Bizeps-Träger auf, der mode- und schuldbewusst aus dem Fernseher herausguckte und unter seiner an eine Badekappe erinnernden Häkelmütze und aufwendiger Körperbemalung ausschließlich aus Emotion zu bestehen schien. Seitens eines ambitioniert frisierten Moderators mittels ein paar erschreckend simplen rhetorischen Tricks zu allerlei Intimgeständnissen verleitet, stand der junge Mann den Tränen nahe und – in so etwas ähnlich klingendem wie Deutsch – Rede und Antwort. Bedauerlicherweise wurde dabei nur wenig Erfreuliches zu Gehör gebracht – wenig erfreulich vor allem für seine Freundin Nicole, die er (aus ihm nun nicht mehr nachvollziehbaren Gründen) im Skiurlaub mit ihren beiden besten Freundinnen sexuell hintergangen habe.
„Was ist das nur für ein Phänomen?“, fiel mich die Frage an.
Liebesgeständnisse, Outings, Hochzeiten, Niederkünfte und Sterbehilfe-Stelldicheins für die ganze Nation? Ist denn das Fernsehen nur noch Beichtvater oder Kuppelmutter für gebrannte Kinder? Wann eigentlich werden die ersten Scheidungen auf dem Bildschirm erscheinen? Ich bin sicher, es gibt sehr schöne und aufwendig gemachte Scheidungen und bedeutend unterhaltsamer als zuzusehen, wie eine 35-jährige Sachbearbeiterin der Hamburg-Mannheimer, deren Defloration so lange zurück liegt, dass es ihr selber vorkommt, als sei dies in einem anderen Leben geschehen, im jungfräulich-weißen Reifröckchen unter Taubengeleit heulend von einem Fussbroichs-Look-alike-Vater zur Kanzel geführt wird.
Wenn heute schon so vieles nicht mehr UNTEREINANDER ausgemacht wird, dann sollte man doch wenigstens ÜBERALL dabei sein dürfen. Ich wäre überhaupt für flächendeckende Transparenz, dann muss auch keiner mehr ausgespäht und abgehört werden: Vielleicht mal die Darmspiegelung live, mal Assistenz beim ersten Viagra-Erwerb, ein wenig Wirtschaftskriminalität in Zeitlupe statt Tatort und bei der Pilzbeseitigung in den Hautlappen beim Biggest Loser. Dafür sollte aber nur noch Public Viewing erlaubt sein, heimische Geräte nur noch als absoluter Ausnahmefall für Gehbehinderte statthaft. Damit wäre das GEZ-Problem vom Tisch und die Menschen wären wieder mehr auf den Mitmenschen angewiesen. Am Ende bilden sich sogar noch neue Freund- oder Liebschaften. „Wir haben uns bei der ersten Folge der Roten Gürtelrose kennengelernt“, heißt es dann später vielleicht einmal. Oder: „Seit der Ziehung der Lottozahlen in der zweiten Spielwoche 2017 haben wir uns nie wieder aus den Augen verloren.“
Nachbemerkung: Ob Nicole dem triebhaften Geständigen verziehen hat, weiß ich übrigens nicht. Die zweite Halbzeit hatte nämlich begonnen und der Schiedsrichter machte gerade Herrn Ballack einen unzüchtigen Antrag mit einer gelblichen Karte.
Je länger ich aber zurückdenke, desto mehr tritt zutage: Michael Ballack war dann doch ein verdammt gutes Argument FÜR die Mediathek.
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