„Das hat Folgen!“ Welcher Pädagoge hat nicht schon einmal diesen Satz gedacht, gehofft, gesagt? Morgens, mittags, prinzipiell immer. Wenn er als „Senderkapitän“ pausenlos bis hin zum SOS piepende Signale in die Lernatmosphäre eines Unterrichtsraumes hinausschießt. Ein oder zwei empfangende Bordmatrosen sich auf den geistigen Hochsitzen eines „Titanic“-Kreuzers befinden, der Rest der Klasse bisweilen den Eindruck macht, als hält er Siesta in den Kajüten … Ignorierend den Umstand, dass der Passagierdampfer Bildungssystem sich kurz vor dem finalen Crash befindet. Ignorieren? Nein. Jeder Kapitän braucht eine Mannschaft. Jeder Trainer Spieler. Schwierig nur, wenn er gleichzeitig auch Schiedsrichter sein muss. Und Platzverweise nicht geben darf.
Das hätte Folgen. Also raus aus dem Kajütenbett oder besser: dem kognitiven Schlummer – ran an die schwer zu fassenden Taue der Erkenntnisgewinnung. Rau sind sie, rutschen einem aus der Hand, man muss ständig nachfassen. Aber ein Schiff auf hoher See darf nicht kentern, auch wenn es schlingert. Und das Ministerium für Hochseeschifffahrt ist weit.
„Konrad!“ rufe ich laut. „Konrad! Was ist denn los?“ wiederhole ich vorwurfsvoller. Die anderen Passagiere hängen genauso in den Seilen. 30°C Außentemperatur, gefühlte 50°C an Deck. Ariane in der letzten Reihe zieht verschämt das Kabel aus der Steckdose, mit dem sie heimlich ihre elektronische Robinsonade beenden konnte. Ich übersehe es dieses Mal.
„Ach, das hat doch alles keinen Sinn, Herr Jopp. Die machen doch sowieso alles so, wie sie es wollen.“ Die resignative Vehemenz lässt mich stutzen. Kurz zuckt mir „mein“ Schiller ins kleine Hirn. „Den Menschen macht sein Wille groß und klein.“ Keine Agitation, keine Überwältigung. Vielmehr sollen sie Lust entwickeln, muss ihnen beigebracht werden, etwas selbst zu erdenken, selbst die Taue für die hochzuziehenden Segel in die Hand nehmen zu wollen. Um sie im nächsten Augenblick wieder loszulassen. Die „Titanic“ zu steuern, war bestimmt nicht einfacher.
„Wer sind ‚die‘?“ will ich wissen. „Sehen Sie, das wissen Sie auch nicht. Ich weiß es nicht. Wir alle wissen es nicht“, plauzt Elena Konrad beipflichtend hinein. Ist das von Belang? Wollen wir nicht unser Schiff gemeinsam steuern, zu neuen Ufern, anstatt wie Piraten auf die Suche oder Jagd nach Reichtum oder Gefangenen zu gehen? „Und was soll das bringen?“ fragt Clara. Fragen. Scheinbar weitab vom Thema der Unterrichtssequenz „Adressatenbezogenes Schreiben im Deutschunterricht“. Nicht Schiller, nicht die Hochkultur, sondern der Kinofilm „Fack ju Göhte“ tanzt mir vor den Augen, als die Direktorin (Katja Riemann) den Lehrplanbezug mit einem schnoddrigen, transitiven Verb kombinierte. Für Nichtkenner der Schulkomödie: „Ich sch .. auf den Lehrplan. Hab ich nicht offiziell gesagt.“
„Vor kurzem hatte ein berühmter Leipziger Moralphilosoph 300.Geburtstag. Er galt als Vorläufer der Aufklärung, mit Folgen für die spätere Klassik und des Humanismus. Sein Grab befindet sich jetzt auf dem Leipziger Südfriedhof. Er starb zu Beginn einer Zeit, die wir heute als ‚Sattelzeit der Moderne‘ bezeichnen. 1769. Einer Zeit, welche die Grundzüge der heutigen im Kern in sich trug. Von ihm kann man vielleicht etwas lernen. Sein Name ist Christian Fürchtegott Gellert.“
Fürchtegott. Komischer Name, wird gemurmelt. „Ja, religiös war er durchaus. Glaubte an die Botschaft des Evangeliums. Die sich trotz des Säkularisierungsschubs durch die Französische Revolution als zeitlos und aktuell erwies und noch heute erweist. Denn diese Revolution brachte der bestehenden Gesellschaft und den Menschen wirtschaftliche und soziale Befreiung, führte ihnen aber auch die Notwendigkeit ständig zu erneuernder Selbstbefreiung vor Augen.“
„Wie? Einmal befreit – immer befreit!“ ruft Valentin spontan dazwischen. Schön wär’s ja, lächle ich. Aber Gesellschaft und Individuum befinden sich ständig im Fluss. Ich wechsle kurzerhand zum Parallelfach. Geschichte. Zeichne mit meinen beschränkten Skizzierfähigkeiten die Phasen der Revolution 1789-99 an die Tafel. Zeige, dass das Potenzial gesellschaftlicher Emanzipation und Demokratie erst zu- und dann stetig abnahm. Von Mirabeau, dem pragmatischen Adligen mit dem Mut, dem französischen Absolutismus die Stirn zu bieten, über Bailly dem Astronomen und gemäßigtem Revolutionär, dem radikalen Robespierre, der glaubte Tugend sei nur mit Terror möglich. Bis hin zu dem Korsen Napoléon Bonaparte, welcher als Kaiser Europa kriegerisch zu einen versuchte, als französisch beherrschtes „Paket“ gewissermaßen, dieses aber mit einem blutigen Band verschnürte. Wichtig waren sie dennoch alle, die „Helden“ dieser klassischen bürgerlichen Revolution.
„Einmal befreit heißt eben nicht ‚Immer befreit‘, Valentin. Vielmehr bleibt es die Aufgabe, ständig an der Befreiung des Individuums von den einengenden Kennzeichen der Gesellschaft zu arbeiten und sich unsozialer Verhaltensmuster zu entledigen. Das heißt, um im Bilde zu bleiben, ständig auf ‚hoher See‘ zu segeln.“ Das ist anstrengend, meint das Lernkollektiv. „Aber brauchen wir dazu alles aus dem Lehrplan?“ fragt mich Anne, „nicht jede Mühe ist eine sinnvolle Mühe, oder?“ Korrekt, antworte ich. Vielleicht hilft euch Gellert dabei, rufe ich in die Klasse. Mit dem Blick auf symbolisch hochgezogene Segel: „Mehr Weisheit macht tugendhafter und mehr Tugend ehrwürdiger und glückseliger.“ Was die Hausaufgabe sei, fragen sie mich. Diesmal nichts Schriftliches. Ich frage sie nach Verhaltensmustern in unserer Gesellschaft. Und deren Folgen. Beim nächsten Mal.
Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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