„Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.“ Im Bildungskontext der Jahrhunderte ein ungeschlagener Satz, beinahe sakrosankte Wahrheit, ähnlich dem Lutherwort vom 18. April 1521 vor dem Wormser Reichstag. Der sagte, dass er „hier“ stünde und „nicht anders“ könne. Alles klar, Martin. Eine Autorität, der Heilige Vater höchstpersönlich, sagt einem normalen Erdenmenschen, er solle seinem Gewissen folgen, selbst aufpassen, was richtig oder falsch, Wahrheit oder Häresie sein soll. Damit „Der Gerechte aus dem Glauben leben“ kann. Römer I, 17.
Zurück zur Echtheit der Schrift. Unbekannt des medialen Gedöns vom Schlage der „Leistung aus Leidenschaft“ oder „Ich-fühl-mich-wie null-Kalorien“ und wenn gar nichts hilft „Ab-in-denUrlaub – Alles für unsere Seelenfitness.“ Das ging mal anders. Mit Martin. Erkennen, glauben, tun.
„Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.“ Amen. Sie glauben es dir ja, die 17-jährigen Claras oder 16-jährigen Maxe vom „Club Mate“. Die halten sie in Reichweite, wenn sie dir antworten. „Fürs Leben, ist klar, wofür sollen wir sonst lernen?“ Dabei schauen sie kurz vom Display des Telefons auf. Eine Schülerin erklärt, wenn sie jetzt nicht zurückschriebe, ist alles aus. Das sei das Leben, sagt sie. Ich bitte mir innerlich Bedenkzeit aus. Wie Luther am 17. April 1521. Einen Tag später weiß er die Antwort. So viel Zeit habe ich nicht.
„Was glaubt Ihr, was ‚Aufmerksamkeit’ bedeutet?“ Mache ich kurzerhand zum Thema der Stunde. Es blicken mehr als zwei Schüler auf. Immerhin. Einer googelt heimlich unter der Bank. Konrad, der Klassenprimus, verkündet in einem Ton, nach dem ich wieder schlechte Betragensnoten einführen möchte:„Achtsamkeit ist ein Prozess, bei dem die Aufmerksamkeit nicht-wertend auf den gegenwärtigen Augenblick gerichtet ist.“ Etwas säuerlich wird zurückgenickt.
„Du hast dich verguckt“, sagte ich mit leicht erzieherischer Schadenfreude. „Achtsamkeit ist nicht ‚Aufmerksamkeit’, oder?“ Aber es habe damit zu tun, entgegnet Konrad mir. Immerhin, sie widersprechen, sage ich mir. Es stünde doch auch im gleichen Satz, höre ich noch. Ja.
Plötzlich sehe ich mehrere Hände oben. Sie verteidigen ihren Altersgefährten, meinen dass man immer sehr aufmerksam ist, was bestimmte Dinge betrifft, diese also auch beachten und wenn es „ganz wichtige“ Dinge sind, ihnen demzufolge auch mit Achtsamkeit begegnen könnten. Es folgt das Beispiel eines tierischen Weihnachtsgeschenkes, welches man sich schon so lange gewünscht hätte. Das Meerschwein und die Achtsamkeit. Na klasse.
Das sind die Sekunden, in denen man sich keine Sorgen um die innere Lethargie machen sollte; Momente, die jeder kennt, der mit oder in pädagogischen „Settings“ zu tun hat – also fast jeder. Inneres Ringen des „inneren Teams“, welches Goethe schon in seinem Faust leben lässt. Nur, wo bleibt mein Gefährte? Mein Mephisto? „Aufmerksam“ sind wir jetzt auf einmal alle, Augenpaare sind auf mich gerichtet, schauen auf-merkend auf mich. Es hat etwas Kolosseumartiges, allein fühlt man sich ausgeliefert einer aufgewühlten, nein, aufmerksamen Menge gegenüber, die der Antwort harrt, auf Erkenntnis zu glauben wartet, um dann weiter zu …?
Zu fragen. Nachzuhaken. Immer wieder mit den „Abers“ zu kommen, Löcher in den Bauch zu fragen, zu behaupten, steif und fest, von einem Moment auf den anderen ganz ruhig zu werden, wenn man merkt, dass der andere aufmerksamer war, dieses und jenes noch beachtet hat, ja, achtsamer mit sich selbst umging und sich vor dem Eingeständnis des fremden Argumentes schützte … Bis die Kraft der kämpfenden Truppe insgesamt nachließ, die Blicke leerer wurden, unaufmerksamer. Neue, immer wiederkehrende Herausforderung, beinahe ein moderner Hamlet, welcher da fragt: Lass ich sie gedanklich fort, weiter treiben auf dem Meer der sie einholenden Unaufmerksamkeit? Oder lass ich sie nicht?
Ich schaue sie an. Mustere sie. Man scheint auf keine Antwort mehr zu warten. „Warum redet Ihr nicht mehr mit mir?“ Schweigen. Ist das Aufmerksamkeit? Einige fangen an, leise miteinander zu reden. Andere schauen nach unten. Zum „Lebensplaner“ Mobiltelefon. Ich habe keine Fragen mehr.
Plötzlich meldet sich jemand. „Ich glaube, ich weiß jetzt, was Sie meinen?“ So, was denn? Denke ich glücklicherweise. Stattdessen versuche ich, mich „nicht-wertend“ diesem Augenblick hinzugeben, nein, mich hineinzuzwingen. „Aufmerksamkeit kann man leichter zeigen, sich dazu zwingen, auch unabhängig vom Gegenstand, Achtsamkeit, dafür muss man mehr tun. Sich …“
„Überwinden?“ frage ich. Zustimmung überwiegend. Schau an, es geht doch. Lächeln. Irgendwie Teilnahme am und an Anderen. „Anteilnahme“ sagt man wohl dazu. Hatte in unserem Fall der Kampf, die Auseinandersetzung mit der anderen Ansicht die Aufmerksamkeit erzeugt? Der Widerspruch, die Kritik, die so notwendig ist? Man weiß es nicht genau. Darin waren wir uns einig. „Warum wart Ihr denn plötzlich „aufmerksam“, frage ich sie. Das wüssten sie nicht, es ginge ihnen nur um die Wahrheit. Ging es Luther auch und ich erzähle ihnen die Geschichte von der zweitägigen aufregenden Pilgerreise des Wittenberger Mönchs, welcher kein Gang nach Canossa wurde. „Ich kann nicht anders.“ Das ist kein Angriff, das ist nicht nur Aufmerksamkeit. Das ist Achtsamkeit. Nicht nur vor der Begrenztheit der eigenen Erkenntnis, sondern entwaffnend geradezu, den Augenblick nicht vorschnell zu be-, den oder die Gegenüber nicht übereifrig zu entwerten. Richtig, grinst Max. Der mit „Club Mate“. Wie war das noch mal mit Schule, Lernen und Leben?
Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Keine Kommentare bisher
Oh schön, da freu ich mich drauf. Hat mir schon in der LZ immer gefallen, so geht das wenigstens nicht zusammen mit dem Altpapier verloren. :0)