„Ist die Flüchtlingskrise zu Ende?“ fragte gestern die in Dresden erscheinende „Sächsische Zeitung“ (SZ) mit erleichtertem Unterton. Schließlich passieren seit Tagen nur noch um die 100 Flüchtlinge die Grenzen nach Deutschland. Ist damit erreicht, was Ziel vieler Debatten der vergangenen Wochen war: eine deutliche Reduzierung der Anzahl der Menschen, die bei uns Zuflucht suchen? Mitnichten! Dass nur noch ein paar hundert Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen, Mitteleuropa erreichen, bedeutet nicht, dass weniger Menschen auf der Flucht sind. Es zeigt vielmehr an, dass sich die Krise potenziert und die Lasten verschoben haben.
Denn nun wird offenbar, was schon vor Jahren deutlich zu erkennen war: Europa und insbesondere die EU sind Teil der – aber nicht – Flüchtlings-, sondern der Menschenrechtskrise. Denn das, was sich hinter dem „Dublin Übereinkommen“ verbirgt, war und ist nichts anderes, als Menschen, die vor Terror und Krieg flüchten, aus Mitteleuropa herauszuhalten. Solange das bis vor zwei Jahren mehr oder weniger funktioniert hat, machte sich auf der politischen Ebene in Deutschland kaum jemand Gedanken darüber, wie viele Menschen auf Lampedusa stranden bzw. vorher im Mittelmeer ertrinken oder wie viele Geflüchtete in der Türkei Schutz gefunden haben – immerhin über zwei Millionen.
Seit zwei Jahren aber lassen sich die Flüchtlinge nicht mehr aus Mitteleuropa heraushalten – bedingt auch durch den Syrien-Krieg. Deutschland wurde zum Aufnahmeland für hunderttausende Menschen. Doch nun wird das Rad wieder zurückgedreht. Nach und nach wurden in den vergangenen Wochen die Grenzen und die sogenannte „Balkan-Route“ dicht gemacht. Ungarn hat angefangen, Österreich zog nach. Die Folgen sind horrend: In Griechenland spielt sich eine Menschenrechtstragödie ab, insbesondere in Idomeni an der Grenze zu Mazedonien. Da versinken nicht nur Menschen sondern auch alle europäische Grundwerte im Schlamm.
Während sich Politiker/innen wie Orban, Faymann, Mikl-Leitner und Kurz in immer neuer kalt-brutaler Abschottungsrethorik ergehen, werden Menschen, die eigentlich dem Elend von Terror und Krieg entrinnen wollen, wie Vieh zurückgestoßen. Bis auf die unentwegt ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen und Bürger aus vielen europäischen Ländern, die sich die Grundwerte von den Orbans, Mikl-Leitners und Seehofers nicht aus der Hand schlagen lassen wollen, kümmert sich kaum jemand um die verzweifelten Flüchtlinge.
Derweil treten die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und Außenminister Sebastian Kurz im Stundentakt vor die Mikrophone, um ihren schick gegelten Zynismus zu verbreiten: Man wolle Griechenland zwingen, endlich für die Flüchtlinge zu sorgen. Das zeugt nicht nur von einer unerträglichen Überheblichkeit gegenüber einem Land, das selbst mit einem für uns kaum vorstellbaren Armutsproblem zu kämpfen hat. Gleichzeitig liefern diese Politiker – und sie sind persönlich dafür verantwortlich zu machen – tausende verzweifelte Menschen einer unmenschlichen Ausweglosigkeit aus. Doch damit nicht genug: Während Frauen, Männer, Kinder mitten in Europa ihrer Würde beraubt werden, schwer erkranken, mit dem Leben ringen, geben die genannten Damen und Herren bekannt, dass man weitere Grenzen schließen werde und dass man mit der Türkei kein Abkommen treffen könne, da die Türkei die Menschenrechte verletze.
Wie bitte? Wer so zynisch Politik betreibt und damit elementare Grundwerte zerstört, der sollte ein Wort wie „europäische Wertegemeinschaft“ nicht mehr in den Mund nehmen. Denn von dieser haben sie sich, aber auch all die Länder wie Ungarn, Polen, Slowakei, Tschechien, die nicht müde werden zu betonen, dass sie nicht einen Flüchtling und schon gar keinen muslimischen Glaubens aufnehmen wollen, längst verabschiedet.
Dieses unmenschliche, alle Werte eines zivilisierten, humanen Zusammenlebens in Europa zerstörende Gebaren – das ist die eigentliche Krise, der Skandal. Nicht die Menschen, mit denen wir gemeinsam die Aufgabe der Integration zu stemmen haben, nicht die Flüchtlinge, die noch zu uns kommen, nicht das Problem, ein Abkommen mit der Türkei zu schließen, verursachen krisenhafte Zustände. Nein – dass europäische Regierungen bereit sind, alle Grundwerte über Bord zu werfen, um einem ekelhaften nationalistischen Egoismus zu frönen und rechtsextreme Begehrlichkeiten zu bedienen, das ist eine brandgefährliche Entwicklung. Denn sie wird sekundiert durch die politischen Gruppen, die in vielen europäischen Ländern dabei sind, den Menschen das Menschliche auszutreiben und den Geflüchteten die Menschenwürde abzusprechen.
Wer aber Grenzen schließt, wer Grenzen durch Mauer und Stacheldraht sichert, um das Leid der Flüchtlinge auszuklammern, der wird auch vor dem nächsten Schritt nicht Halt machen: militärisch aufzurüsten und damit seine Bereitschaft zu signalisieren: Notfalls werden wir nach innen und außen Krieg führen. Man muss es in dieser erschreckenden Härte zu Ende denken, um zu ermessen, mit welchem Feuer diejenigen spielen, die sich von allen zivilisatorischen, kulturellen, demokratischen Errungenschaften nach und nach verabschieden. Es wird – unabhängig vom Ausgang der heutigen Wahlen – unser aller politische Kraft herausfordern, um uns dieser Entwicklung entschlossen in den Weg zu stellen.
Keine Kommentare bisher