Außer Lesen nix gewesen? Wohl in wenigen Dingen gehen die Sichtweisen der Menschen so weit auseinander wie in den Erinnerungen an die eigene Schulzeit, den Deutschunterricht inklusive. Klar. Für die einen Erinnerung an einen charismatischen Deutschlehrer, der machen konnte, was er wollte, dem man einfach gerne folgte, auch wenn er einem aus der „Gartenlaube“ oder den „Drei kleinen Schweinchen“ vorgelesen hätte. Für die anderen hingegen führen die Gedanken ausschließlich zurück zu unzähligen Stunden, die sich zogen wie zäher Schlamm.
In denen man unendlich gelangweilt war von der Pflichtlektüre des literarischen Kanon, dessen Inhalt und Sprache man beim besten Willen nicht mit der eigenen Lebenswelt verknüpfen mochte. Auch die gestrige Sonntagsbeilage der LVZ, in letzter Zeit wunderbar inspirierend und unterhaltsam, nahm die seit Jahren immer mal wieder aufflammende Diskussionen über Nützlichkeit und Beschaffenheit des literarischen Kanon wieder auf.
Brauchen wir einen solchen wirklich noch oder können wir Hamlet, Faust und die Räuber in der Pfeife rauchen wie die Zeugnisnoten? Ja / Nein / Vielleicht?
Zunächst einmal ist es gut, wenn man wachsam bleibt über das obligatorisch unters Volk zu jubelnde Wissen. Keine Frage. Wachsam vor allem in der heutigen Zeit, die durch die digitale Revolution gerade so durchgerüttelt wird, wie ehedem vielleicht nur die industrielle zu rütteln imstande gewesen war. Ist das nicht alles angestaubtes, erstarrtes und überdies höchst subjektiv ausgewähltes Wissen, das wir da krampfhaft zu bewahren suchen? Spüren wir nicht vielfach an den Kindern und jungen Menschen in der Schule, wie schwer der Brückenschlag zwischen klassischen Werken, ihrer besonderen Sprache und den heutigen Sprach- und Rezeptionsgewohnheiten längst geworden ist?
Wobei einzuräumen ist, dass es sich dabei um kein Schüler-Spezifikum handelt: Menschen, die Wissen nur dann als relevant einstufen, wenn es etwas mit ihrer eigenen schieren Präsenz auf der Erdkrume zu tun hat, sind mittlerweile überall im Leben anzutreffen. Haben wir nicht tausendfach Kandidaten bei Günter Jauch angesichts historischer Fragen – händeringend gen Firmament blickend – sagen hören: „Ach Gottchen! Das war doch VOR meiner Zeit!“ Als habe die Zeitrechnung erst mit der Abtrennung deren ureigener Nabelschnur begonnen.
Sicher kann man das auch so sehen, keine Frage. Vielleicht ist das sogar die pragmatisch-weise Sicht in einer Epoche, in der es ungleich schwerer geworden ist als zu Leibniz-Zeiten, seinen Mitmenschen als Universalgelehrter positiv aufzufallen.
Und mal ehrlich: Ist es denn klug, ständig mit der ganzen Chose ganz von vorne anzufangen?
Vor allem vor dem Hintergrund, dass unser Leben das geworden ist, was man euphemistisch als „schnelllebig“ zu bezeichnen pflegt? Ständig neue Software kennenlernen, ständig neue Handytarife studieren, ständig up to date sein, was die neuesten Spielkonsolen angeht. Was vorgestern galt, ist tags darauf schon so was Print-Zeitalter. Da können Oldschooldirektoren mit ihrem analogen Phantomschmerz doch einpacken.
Warum also von unserem augenblicklichen Standort aus alles über den Haufen werfen, was wir bisher in der Schule gelehrt haben? Alles raus, was nicht gegoogelt werden kann? Alles weg, was bei drei nicht in eine Excelltabelle eingepflegt ist? Platz schaffen im Kopp für Neues, Frisches? Bitte ausschließlich auf dem Tablet serviert?
Ja und nein.
Sicher ist es richtig, zu vermittelndes Wissen ständig auf den Prüfstand zu stellen. Inwieweit sind uns die dort festgezurrten Lehrinhalte noch von Nutzen, inwieweit bringen sie den Menschen in der Gesellschaft voran, machen ihn zu einem mündigen und nicht nur zu einem „mündlichen“ Mitglied – wie es der herrschende Trend im Hinblick auf die Schreibfertigkeiten junger Erwachsener vermuten ließe.
Aber bevor wir die Frage nach dem verdammten RICHTIGEN Wissen stellen, sollten wir uns in erster Linie zunächst vielleicht darauf besinnen, WEM man etwas beibringt. Und welchen Stellenwert er in der Gesellschaft hat. Die Zeit samt ihren technischen Entwicklungen scheint im Sauseschritt auf einen TGV gesprungen zu sein, allein die zentrale Figur darin, der Mensch, ist es nicht. Der Mensch ist selbst ein Tanker, der sich behäbig wendet, wenn überhaupt, und kein Rennpferd, dem man schnell mal die Zügel herumreißt, heute hü schreiend, morgen hott. Und der überdies im Kreise zu traben scheint im Moment: überinformiert, doch zugleich ohne richtiges Wissen.
Bei dieser Rückbesinnung auf den Menschen würden, man wagt es kaum zu sagen, dann doch wieder die klassischen Werke als Manual ganz gut funktionieren: Faust, Hamlet, Antigone. Das sind alles keine Figuren, die einen zwangsläufig depressiv machen müssen, sondern an deren Erfahrungen man beobachtend und im besten Fall mitfühlend lernen kann. Die sind das geistige Koffein für die Zeit, in der man später müde zu werden droht.
Und noch ein Gedanke:
Wie kann man über den Werte- und Identitätsverlust unserer westlichen Gesellschaft klagen, wenn man ihr immer mehr den Nerv für Geschichte zieht, ihrer literarischen Normen oder sie ihrer sprachlichen Standards sehenden Auges berauben lässt?
Wie? Goethe hat die Norm doch auch gebrochen im „Faust“? Ja, hat er. Aber er KANNTE die Norm. Das ist die Voraussetzung für Teilhabe an jeglicher Kultur Europas und im besten Fall auch für künstlerisches Schaffen. Mit anderen Worten: Wie sollen Synapsen später Tango tanzen, wenn es sie gar nicht geben durfte?
In einer Zeit, in der Babylon von Schülern bereits nach dem phonetischen Vorbild von Babyphon ausgesprochen wird, ist es aber vielleicht längst ein Kampf gegen Windmühlenflügel, der da zu kämpfen ist.
Trotz allem finde ich, dass Don Quichote weiterhin in unseren Kanon gehört. Und vor allem: DASS es einen geben sollte. Sollte ich falsch liegen, kann ich mich immerhin noch mit dem Faust trösten, denn es irrt ja bekanntlich der Mensch, solang er strebt.
Wer aber sagt, dass man den Kampf um dessen Vermittlung kanonischer Werke auf einem klapprigen Gaul führen muss, der darf sich nicht wundern, dass die Erfolge ausbleiben. Legen wir die Grundlagen in der Schule. Mit Zeit. Geduld. Ohne größeren Druck der Vorgaben. Spielerisch. Ausprobierend.
Die Medizin ist mittlerweile so weit, dass viele von uns weitere vierzig, fünfzig Jahre nach Schulabschluss Zeit haben, den Kanon zu inhalieren, zu vervollständigen oder noch einmal aufzuwärmen. Es bedarf keinerlei Panikmache, keinerlei Druck, keinerlei Angst, wir machten eventuell die Kinder nicht fit für ihre Zukunft. Eine Zukunft, die uns gerade unter den Füßen herumschlingert wie die Hängebrücke im Dschungelcamp und von der wirklich keiner weiß, wie sie aussehen wird. Noch nicht mal einer da, who has a dream.
Was wir aber haben sind brillante, seherische, humanistische Werke, die uns alles vermitteln, was wir auch heute noch bräuchten. Jenseits jeglichen Spazierenfahrens bildungsbürgerlichen Wissens. Der Kanon ist schnell gemacht. Das Wichtigste aber ist und bleibt: „Es muss von Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll.“ (Goethe. Ja. Der schon wieder!)
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