Achim Mentzel war der Mann, dem ich mein erstes Autogramm verdanke. Vergangene Woche ist er gestorben. Mentzel musste damals, wie wir auch, einen Ostseeurlaubsplatz ergattert haben. Jedenfalls erinnere ich mich, wie ein lockig-fröhlicher, üppiger Mann in einem Strandkorb eine Art Audienz abzuhalten schien, während sich im Sand bereits eine Schlange von Leuten in Badebekleidung zu bilden begann, in die ich mich wie ferngesteuert einreihte. Gelernt war eben gelernt: In der DDR stellte man sich ja prophylaktisch überall mit an. Das wusste auch schon die Fünfjährige, die ich damals war.
Jetzt war Achim knapp siebzig. Ja, ich weiß: 69. Einige werden sagen, dass das doch wahrlich genug sei. Vielleicht ist da sogar etwas dran, andererseits gab es Zeiten, da galt man in der Sowjetregierung mit diesem Alter noch als Jungspund des Kremls.
Aber ganz gleich, wer da auch immer “plötzlich und unerwartet” abtritt, man ist stets beides: betrübt UND irgendwie alarmiert: “Donnerlittchen”, schießt es einem dann unschön durch den Kopp, “so schnell kann es ja vorbei sein”. Die Endlichkeit des Lebens vergisst sich bekanntlich rasch im täglichen Gewusel zwischen Frühbucherrabatt-Rennerei und Late Night Shopping. Natürlich hat jeder auch mindestens einen Carpe-Diem-Sager oder Memento-Mori-Mahner oder “Von-der-Lebensmitte”-Faseler im Umfeld, aber die stellt man dann doch gern schnellstmöglich auf lautlos. Vor allem Letztere sind tatsächlich schwer auszuhalten.
Wir erinnern uns: die Lebensmitte, das ist jener beklagenswerte Abschnitt in der Biographie, in dem – folgte man dem Mediengeschwätz – der Körper zur großen Problemzone umdeklariert wird. Wo das Wort Vorsorgeuntersuchung häufiger fällt als Fellatio-Wünsche, und wo trotzdem noch mal alles drin ist, wo man die Midlife-Krise zelebriert, noch mal von vorn anfangen könnte, allen Ballast einfach abwerfen und mit Laura-Marie, dem süßen Au-Pair, oder Kay-Sven, dem muskulösen Physiotherapeuten, in ein neues Leben starten. Die Lebensmitte-Vergiftung bringt solche Gedanken eben hervor. Setzt einen ganz schön unter Druck. “Wollte man nicht längst …?” wird zur zentralen Frage.
Wollte man nicht längst … tja, was eigentlich?
Mit Delfinen schwimmen?
Noch mal heiraten? Vielleicht in einer anderen Farbe?
Mal wieder Django Reinhardt hören?
Bei Mondschein baden?
Einen Origami-Kranich falten?
Mit dem Nachtzug nach Lissabon oder doch lieber San Francisco in zerrissenen Jeans? Wachbleiben bis die Wolken und man selber ganz lila ist?
Eventuell doch mal Bier auf Wein probieren?
Mit dem Rauchen anfangen?
Berühmt und berüchtigt werden?
Eine glühende Rede vor Arschlöchern halten, mit Vogelzeigen, rauschendem Abgang und allem drum und dran?
Mit dem Orient-Express fahren und einander Agatha Christie vorlesen?
Abwechslungshalber mal auf die gerade Bahn geraten?
Oder noch mal so richtig über die Gehorsamenstränge schlagen …?
Machen wir es kurz: Ich habe nichts gegen Midlife-Krisen. Krisen kommen und gehen wie Vorstände der Deutschen Bahn. Der eigentliche Skandal aber ist der Lebensmitte-Skandal. Dass der Mensch sich überhaupt erdreistet, der Mitte eine solch große Bedeutung beizumessen und so tut, als wisse er, wann diese überhaupt stattfindet. Wir sollten froh sein, am Leben zu sein und glücklich darüber, nicht so effizient wie Jesus gewesen zu sein, der uns mit seinem Leben auch dieses zeigte: Wenn die Lebensmitte in die Zeit der Pubertät fällt, hat man mit 30 oft schon Probleme mit dem Kreuz.
Vor allem aber gilt – bei aller Lebenslust sowie notwendigem Ab-und-Zu-Mal-Innehalten – weiterhin das, was sich das Leipziger Neue Rathaus korrekterweise als Slogan auf die Rathaus-Uhr gehauen hat: “Mors certa, hora incerta.”
Irgendwie beruhigend beunruhigend.
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