Woran denkt man zuerst, wenn die Stadt Wurzen erwähnt wird und man kein Reimwortfetischist ist? Richtig - an Ringelnatz! Und das ist auch gut so. Denn in Wurzen befindet sich das Geburtshaus von Joachim Ringelnatz, dem Maler, Dichter, Kabarettisten, diesem unvergleichlichen Hans Dampf in allen Gassen, der uns das vielleicht heiterste, melancholischste und zärtlichste Vermächtnis hinterlässt, dass die Kunst Anfang des letzten Jahrhunderts zu bieten hatte.
Das beschauliche kleine Wurzen, nur 30 km von Leipzig entfernt und vermutlich in internationalem Liedgut etwas weniger besungen als zum Beispiel Paris, ist seit Jahren zu Recht stolz auf den wunderbaren Sohn, der hier im Jahr 1883 als Hans Gustav Bötticher geboren wurde. Der Joachim Ringelnatz Verein e. V. Wurzen leistet lange schon ambitioniert kulturell hochkarätige Arbeit im Ringen wider das Ringelnatz-Vergessen. Deshalb kann bis heute unumwunden gesagt werden: Ringelnatz rechtfertigt noch immer jeden Wurzen-Besuch.
Wer allerdings noch nicht dort war, der sollte sich möglicherweise beeilen. Die Stadt zieht zur Stunde in Betracht, das Ringelnatz-Haus aus Einsparungsgründen zu verkaufen, wohlwissend, dass sie sich damit von ihrem Vorhaben, das Haus als nationale Gedenk- und Begegnungsstätte im Sinne des hier geborenen Ausnahmetalents zu sanieren und zu gestalten, verabschieden. Die Stadt sei mit solcherlei Ansinnen “finanziell überfordert.”.
Als ich dies las, überfiel mich die gleiche Angst, wie ich sie seit Jahren spüre. Dass Politik sich weiter auf nichts anderes beschränkt als auf läppische Machtkämpfe und todsterbenslangweilige Zahlenspielchen. Da war sie wieder – diese Kurzzeitlähmung, gegen die kein Pfefferspray, kein CS-Gas und keine Kleinwaffe etwas auszurichten vermag. Nein, mit dem modernen Spielzeug des deutschen Kleinbürgers ist ihr nicht beizukommen. Aber wie nur? Wie?
Erst einmal hingesetzt und einen angeschrieben, der die Fäden ja noch ein bisschen in der Hand halten müsste: den Oberbürgermeister von Wurzen. Der muss jetzt ran, sonst fordere ich ihn zum Duell. Oder Duett. Scheißegal. Los geht’s:
Sehr geehrter Herr Röglin,
mit Entsetzen erhielt ich Kenntnis darüber, dass sich Ihre Stadt auf Antrag der Stadträte gegen den Erhalt des Geburtshauses von Joachim Ringelnatz stellen will. Die Kosten seien perspektivisch nicht mehr tragbar, befinden Sie im Konsens.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass auch Sie als Oberbürgermeister einer sächsischen Kleinstadt Zwängen eines vermutlich überschaubaren Budgets unterworfen sind, halte jedoch im ungebrochenen Glauben an visionäre Vertreter der Politik daran fest, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, derer man sich nicht einfach mit dem Budgetknappheits-Totschlagsargument entledigen sollte.
Um einen solchen Fall handelt es sich beim Ringelnatz-Haus ohne Zweifel, das wissen Sie längst. Ich muss Ihnen auch mit Sicherheit nicht die Bedeutung des Künstlers Ringelnatz erläutern. Sehr wahrscheinlich stimmen Sie mit mir darüber überein, dass derjenige, der Ringelnatz gelesen und verstanden hat, für immer für die Dummheit und Hässlichkeit dieser Welt verloren ist.
Sich aber seiner zu erinnern und einen Platz, ein Haus dafür zu wissen, wo man sein Gedenken verorten kann, das ist eine ebensolche Gnade wie Ringelnatz’ Werk durchforsten zu können. Anders ausgedrückt: Einfühlung in ein schriftstellerisches Werk braucht zuweilen einen Ort, um besser zu gelingen. Der Mensch will eben ganz gern “Ringelnatz mit Anfassen”. Sie haben diesen Ort als Besitz in Ihrer Stadt.
Lieber Herr Tröglin, auf Ihrer Internetseite schreiben Sie: “Meine langjährigen Erfahrungen in der Wirtschaft und Verwaltung, auf den unterschiedlichsten Themenfeldern will ich auch weiterhin gemeinsam mit Ihnen zum Wohle unserer Stadt einsetzen.” Ich fordere Sie auf: Bitte tun Sie das! Sie haben die Gelegenheit, der Stadt einen wirklich großen und nachhaltigen (entschuldigen Sie diese Modevokabel) Dienst zu erweisen. Seien Sie nicht einer von den immer zahlreicher werdenden geistig Kurzsichtigen Ihrer Zunft, die ernsthaft daran glauben, dass alles was im Leben zählt, man auch zählen könne. Glauben Sie mir, das Leben wird das heimzahlen. Es wird sich nicht rechnen, es wird sich rächen. Die Einschläge kommen bereits näher und wir sahen im zurückliegenden Jahr 2015 bereits sehr deutlich, wohin Versäumnisse seitens einer phantasielosen Kulturpolitik führen können.
Aber auch aus einem anderen Grund halte ich es für eine unkluge Idee, das Haus veräußern zu wollen und einem unklaren Schicksal entgegenrotten zu lassen: Ich habe zwar wenig Kenntnis darüber, ob Wurzen augenblicklich ein Problem mit Rechtsradikalismus hat. Vermutlich nicht mehr und leider auch nicht weniger als alle anderen deutschen Städte vergleichbarer Coleur auch. Ganz gleich: Wurzen befindet sich in Deutschland und Deutschland HAT definitiv ein wachsendes Potential rechtsradikalen Gedankenguts. Die Erhaltung des Ringelnatz-Hauses wäre das eindrücklichste Signal gegen Rechts, das eine Stadt setzen könnte. Einem Dichter, den die Nazis als frivol und entartet betrachteten, dem sie mit dem Auftrittverbot den Weg in einen qualvollen Tod ebneten, weil er ärztlichen Beistand nicht mehr bezahlen konnte, stoisch die Erinnerungsstange zu halten, das wäre groß. Da können Sie sich jede Lichterkette sparen. Zeigen Sie, dass uns in Sachsen so etwas im Rahmen der Aufrechterhaltung unserer gesellschaftlichen Werte weiterhin wichtig ist. Und zwar sehr.
Lassen Sie die Ringelnatzstadt Wurzen nicht zu einem potemkinschen Dorf werden, das seinen großen Sohn zwar für jedwedes Stadtmarketing hervorzerrt und hochprügelt, seinem Geburtshaus aber im Rahmen einer kümmerlichen Sparpolitik heimlich den Garaus beschließt. Mit anderen Worten: Man kann nicht die schöne Gattin allerorten stolz herumzeigen und ihr Zuhause nicht einmal ein Bett zuweisen.
Ich wünsche Ihnen ein wenig Kontemplation vielleicht mit etwas Ringelnatz-Lektüre im Kreise Ihrer Familie und vor allem ein gesegnetes Weihnachtsfest, auf dass Sie mit guten Entscheidungen ins Jahr 2016 zu starten imstande sein werden.
Mit den besten Grüßen
Ulrike Gastmann
PS: Mal sehen, was daraus wird. : …
Keine Kommentare bisher