Eigentlich ist es gut, radikal zu sein, also grundlegende Veränderungen einzuklagen und in Gang zu setzen. Doch wenn sich Radikalismus mit Alternativlosigkeit paart, dann wird es gefährlich. Denn das Streben nach Veränderung kennt dann keine andere Möglichkeit als die eigene. Insofern sind die jahrelange Rede von der Alternativlosigkeit politischer Entscheidungen und die zunehmende Radikalisierung in unserer Gesellschaft zwei Seiten ein und derselben Medaille. Diese nun wahrlich nicht glänzende Medaille beinhaltet: den streitigen Diskurs ablehnen, das Abwägen unterschiedlicher Möglichkeiten verweigern, die eigene Position zur Wahrheit erklären.
Wer die vergangenen Jahre Revue passieren lässt, dem wird auffallen: die Streitkultur in unserer Gesellschaft ist degeneriert zur Deklamation der eigenen Überzeugung und persönlichen Abwertung desjenigen, der anders denkt – nicht zuletzt Folge davon, dass Meinungsbildung, also der Austausch unterschiedlicher Sichtweisen, nicht gefördert wird. Ebenso wird Religion zur Privatangelegenheit erklärt, um sich ja nicht auseinandersetzen zu müssen mit alternativen Anschauungen der Welt. Hinzu kommt, dass politische Positionen mit ihrer Bekanntgabe und lange vor der parlamentarischen und öffentlichen Auseinandersetzung als “alternativlos” hingestellt werden, so dass jeder, der eine Gegenposition einnimmt, erst einmal als Störenfried dasteht.
Genau dieses Muster wird aber auch von denen angewandt, die gegen als alternativlos proklamierte politische Entscheidungen auftreten. Sie erklären ihre Position zur “Wahrheit”, sich selbst zum “Volk”, das immer richtig denkt, und verweigern den Diskurs. Denn mit denen, die ihrer Linie nicht folgen, gibt es nichts mehr zu diskutieren; außerdem kann man seine Meinung nicht mehr frei äußern. Darum das montägliche Gebrülle von “Lügenpresse” und “Volksverräter”, gegen die es sich durchzusetzen gilt – notfalls mit “Widerstand”. Darum auch die Anonymisierung der Hassausbrüche im Netz bis hin zum Anzünden von Asylunterkünften. Man befindet sich in einer Art Kriegszustand: Problemvernichtung statt Problemlösung. Doch wie gesagt: Das ist die schmutzige Kehrseite der Medaille, die sich – mit der Aura der Ratio umgeben – “alternativlos” nennt.
Nun ist das Besondere am Weihnachtsgeschehen, dass uns mit der Geburt Jesu eine großartige und überraschende Alternative aufgezeigt wird – jenseits unseres Alltags, jenseits der herrschenden Verhältnisse. Dies geschieht, ohne dass Menschen sich selbst radikalisieren, von anderen aufgehetzt werden, ihr verlorenes Selbstwertgefühl dadurch wieder gewinnen wollen, dass sie sich gegen andere abgrenzen und diese entwerten. Der Evangelist Lukas unterstreicht diesen Aspekt der Weihnachtsgeschichte dadurch, dass er die Geburt Jesu an einem unbekannten Ort bei Bethlehem in das politische Weltgeschehen seiner Zeit einbettet und damit die Vormachtstellung der Herrschenden relativiert. Gleichzeitig berichtet er von einem erstaunlichen Szenario auf dem Hirtenfeld bei Bethlehem. Da ist kein Platz für Hetze, Häme, Pogrom, Gewalt – dafür ganz viel Licht, Freude und eine umwerfende Botschaft: Gott die Ehre, der Erde Frieden, den Menschen Gerechtigkeit – die große Alternative zur Welt der Augustus und Herodes, zur Realität von Krieg, Terror, sozialer Ausgrenzung und Menschenverfeindung.
Diese grausame Welt hätte für alle, die sich um die Krippe scharen, genug Anlass gegeben, sich zu radikalisieren und sich in ihren Gewalt- und Widerstandsphantasien zu verlieren. Doch genau das geschieht nicht. Maria, die sehr früh ahnt, dass die Geburt Jesu Wellen schlagen wird, entwickelt ein erstaunliches Selbstbewusstsein – nicht dadurch, dass sie auf noch Schwächere herumtrampelt. Vielmehr dankt sie Gott dafür, dass er ihr Leben gewürdigt und mit Aufgaben versehen hat – wohlgemerkt: unter schwierigsten Bedingungen. Maria weiß sehr wohl, wie unnachsichtig brutal es in der Welt des Oben und Unten, des Hungers und Überfluss zugeht. Aber sie kennt die Alternative: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und die Ehrfurcht vor dem Leben. Das bewahrt sie vor verbittertem Zorn und sich abschottender Selbstbemitleidung, die jede Veränderungskraft erlahmen lassen. Gleiches können wir von Hirten und den Weisen sagen: Sie machen sich keine Illusionen über den Zustand ihrer Existenz, bleiben durchaus ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen Herkunft verhaftet. Aber sie können nun alles, auch die eigene Existenz, neu einordnen in die Geschichte, die Gott uns Menschen mit Jesu Geburt eröffnet:
- jenseits der verfestigten Abläufe, an denen sich angeblich nichts verändern lässt;
- jenseits der Beherrschung des Lebens durch die Mächtigen, die die Menschen hin und herschieben, wie es ihnen gefällt, und die ihre Truppen aufmarschieren lassen dort, wo sie ihre Interessen mit Gewalt durchsetzen wollen;
- jenseits von dem, was wir selbst für alternativlos und wahr halten und uns radikalisiert.
Diese neue, durchaus jenseitige Geschichte erlaubt es uns auch heute, dem Rad der Weltgeschichte in die Speichen zu greifen und das Geschehen vor Ort zu verändern. Doch dieses setzt eines voraus: Wir werden uns den unbefangenen Blick auf das Jenseits (wieder) aneignen müssen – nicht um uns von der realen Welt abzuwenden, sondern um mit den Augen des Glaubens die heilsamen Alternativen zu sehen. Sollen sich Menschen und Mächte weiter verrennen in Krieg und Terror (und selbiges geschieht derzeit im Nahen Osten), sollen Tausende weiter ihr verkümmertes Selbstwertgefühl durch Menschenverfeindung aufzurichten versuchen, sollen sich Völker in nationalistischer Selbstüberschätzung abschotten gegen die, die Schutz und Zuflucht suchen – die uns durch das Kind in der Krippe geschenkte Weltanschauung lässt uns andere Akzente setzen. Denn das Entscheidende für unser Leben findet auf einer anderen Ebene statt:
- dort, wo das Licht in unsere Finsternis einbricht;
- dort, wo wir wie die Hirten und die Weisen aus dem Morgenland an der Krippe eine Ahnung vom friedlichen, gerechten Zusammenleben der Völker und Religionen bekommen;
- dort, wo Menschen in Armut und Verzweiflung ihre Würde und ihre Aufgaben entdecken.
In diesem Jahr tun wir gut daran, uns zur Jenseitigkeit des Glaubens zu bekennen, um sehr viel deutlicher und bestimmter im Diesseits unseres Lebens für die Werte einzutreten, die mit Jesus Christus neu geboren wurden. Da diese Werte aber jedem Menschen gelten, darf das Weihnachtsgeschehen weder durch die Kirchen noch durch eine Kultur noch durch ein Land exklusiv okkupiert werden. Wie gut, dass die interreligiöse, Grenzen überwindende Bedeutung der Weihnachten in den Begegnungen mit den Flüchtlingen in unserem Land in diesem Jahr tausendfach gelebt und unterstrichen wird.
P.S. Jenseits vom peinlich-hämischen, blasphemischen Pegida-Weihnachtsliedersingen am Elbufer hätten am vergangenen Montag die Verantwortlichen des Kreuzchores, aber auch die Stadt Dresden beim gleichzeitigen Auftritt der Kruzianer im Dynamo-Stadion ein deutliches Zeichen für das weltoffene, den Fremden zugewandte Dresden setzen können: wenigstens ein Wort zur Unvereinbarkeit von Fremdenfeindlichkeit und Christgeburt; wenigstens ein Wort dazu, dass Jesus nicht in die Welt kam, um das „christliche Abendland“ zu gründen, sondern um „den Menschen allen ein Wohlgefallen“ zu verheißen. Wie gut hätte dies auch denen getan, die offensichtlich noch nicht einmal symbolisch eingeladen waren: die Flüchtlinge, die derzeit in Dresden leben. Auch ein Traditionschor trägt ein hohe gesellschaftspolitische Verantwortung, insbesondere dann, wenn er in der Kirche zu Hause ist. Aber offensichtlich tun wir uns auch da schwer mit dem Jenseits im Diesseits.
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