Manchmal tue ich Dinge, die ich mir nicht sofort erklären kann. Für die man sich im ersten Moment sogar fast schämt. So habe ich zum Beispiel kürzlich auf offener Straße Herrn Weselsky angelächelt. Im Ernst. Man kennt das ja: Man ist arglos mit dem Fahrrad unterwegs, der Freitagnachmittag lockert schon ein wenig die Ventile der Woche, man befindet sich darob beschwingter Stimmung. Aussicht auf Linderung kann etwas so Wunderbares sein.
Da kommt jemand des Weges, den man nur aus dem Fernsehen kennt – und keineswegs aus dem Treppenhaus – und schon meldet das dumme, kleine Gehirn „Wahrnehmen und grüßen!“, weil es so etwas im ersten Bruchteil einer Sekunde nicht unterscheiden mag. Zunächst war mir dies wirklich ein bisschen peinlich, auch aus Haltungsgründen. Nach längerer Betrachtung aber beschloss ich, das nicht sein zu müssen.
Claus Weselsky, wir erinnern uns, das war jener Gewerkschaftsvorsitzende der GDL, der uns vor der großen Flüchtlingsdebatte und der Griechenlandrettung und noch bevor wir alle Charlie Hebdo gewesen waren, so manchen medialen Herzkasper zu bescheren wusste. „Alle Räder stehen still, wenn die GDL es will“, raschelte es da überall im Blätterwald. Mit dem zurechtgebogenen Georg-Herwegh-Zitat schrieb man damals vielerorts seine Empörung über Herrn Weselsky und dessen Streikpläne in die Welt hinaus.
Nur zu verständlich war dies einerseits, hatte es doch tatsächlich eine Vielzahl an Reisenden getroffen, die nicht nur mit dem Herwegh, sondern auch mit dem Rückwegh von sonst woher äußerst lästige, vielleicht sogar existentielle Probleme gehabt hatten.
Ich weiß, wovon ich spreche: Ich bin professionelle Zugbegleiter-Begleitete. Ich habe in den vergangenen Jahrzehnten mit der Deutschen Bahn so ziemlich alles durch, was ein Partner mit einem kapriziösen Egomanen-Pendant eben so mitmachen kann: Jede Preiserhöhung ließ ich ihr durchgehen, jede noch so hanebüchene Begründung für mehrstündige Verspätungen („Wir bitten um Entschuldigung. Es befinden sich verwaiste Eichen auf dem Gleis.“) habe ich ausgesessen.
Einmal habe ich sogar ihretwegen – außerplanmäßig am Abend in der stadtgewordenen Zumutung Hannover gestrandet – übernachten müssen. Trotzdem bin ich der Bahn bis heute treu geblieben. Auch weil ich bei Bussen nur den Mageninhalt und keinen Daumen hochkriege.
Keine Frage: Der routinierte Bahnfahrer ist Kummer gewöhnt.
Aber als dann auch noch Claus Weselsky auf der Bildfläche erschien und den Bahnkunden wiederholt eine mehrtägige Bettruhe verordnete, sah man sich mit einer neuer Dimension an Reise-Schwierigkeiten konfrontiert.
Und so sehr mich das im Einzelfall auch dauert, wenn es wirklich Menschen traf, die an einer Bahnreise in jenen Tagen ihr Glück festmachten, weil sie in die Bedienung mit dem charismatischen Oberlidstrich vom Bordbistro des ICE „Louise Otto Peters“ verliebt waren zum Beispiel und nur deswegen tagtäglich mit diesem Zuge durch den Hunsrück rauschten. Oder wenn sie – seit Jahren nach Texas emigriert – auf Heimaturlaub kamen, um noch mal mit der Regionalbahn nach Großdeuben zu toben, um die alte Frau Nützel und die Eltern zu besuchen, so seltsam beeindruckend finde ich das Verhalten des GDL-Vorsitzenden.
Warum? Wo ihn, den ehemaligen Rangierlok-Cowboy der DDR, doch viele als nun endgültig übergeschnappten Macht-Gewerkschaftler ansehen und ihm allenfalls Größenwahn bescheinigten.
Er machte uns schlicht fassungslos, der Claus Weselsky. Und seltsam ohnmächtig, nicht?
Dieses Ohnmachtsgefühl und die Empörung, so gerechtfertig letztere im Einzelfall auch gewesen sein mag, sagen eine Menge über uns aus. Über unsere Erwartungshaltung ans Leben. Zweifellos ist es wunderbar, wenn alles funktioniert, der Nahverkehr leise und smooth agiert und die ICEs durchs Land pfeilschnellen. Wenn das Wasser aus der Leitung kommt und nicht von der Decke. Dass die Heizung anspringt, wenn die Blätter sich suizidal von den Bäumen zu stürzen beginnen.
Aber wir fordern bereits ein Universal-Funktionieren der Gesellschaft. Im Großen wie im Kleinen. Im Berufs- wie im Privatleben. Es hat gefälligst zu laufen. Wir finden es vollkommen angemessen, dass wir im Internet Grundstücke auf dem Mond erwerben, den Penis verlängern oder alte Freunde aus Grundschultagen wiederfinden. Was wir aber mit einem riesigen Geschlechtsteil und all den ollen Klassenkameraden auf einem Mond-Grundstück überhaupt sollen, wissen wir gar nicht. Hauptsache, es steht uns zu, das alles.
Allein deshalb ist es beachtlich, wie sehr wir in unseren fragilen Grundfesten zu zittern beginnen, wenn nur ein einziges Steinchen sich bockig gibt und eine Pause macht. Dazu auch andere anstiftet. Und zeigt, wozu man alles mit einer gewissen Klarheit und – ja auch vielleicht zuweilen unangemessener Sturheit – mit einem unorthodoxen Ausscheren in der Lage ist. Es ist vielleicht auf eine sehr pragmatische Art und Weise sogar klug, seine Aktivitäten dahingehend zu kanalisieren, indem man sie für etwas einsetzt, dass man für sinnvoll UND aussichtsreich hält. Das demonstrierte einer wie Weselsky auf vielleicht ungewollte Weise eben auch. Und dafür hat er dann doch ein Lächeln verdient. So viel ist sicher.
Unsicher bleibe ich in der Frage, ob die Vehemenz richtig war, mit der er oder die GDL da vorzugehen beliebte. Für die, die Urlaubspläne hatten, war es hart. Für die Lokführer allerdings hat es mittlerweile ein halbwegs zufriedenstellendes Ergebnis gebracht. Was wiegt schwerer? War es das wert? Wie viel Abstand braucht es, um dies beurteilen zu können?
Nichtsdestotrotz: Mögen wir auch in der kommenden Woche ein Ziel haben – und im besten Fall schon den Weg dorthin genießen können!
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