Auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz wird wieder gearbeitet. Gleich doppelt. Am Rand wühlen sich kleine Bagger durch die Erde, denn für 200.000 Euro wird der Platz bis zum Jahresende hergerichtet, um ihn als öffentlichen Raum nutzen zu können. Und gleich daneben wird schon die erste Nutzung hochgezogen, die erstaunlicherweise an den "Herbstsalon" von 2014 erinnert. Das ist kein Zufall.
Auch wenn der “Herbstsalon”, der damals von der HTWK Leipzig und der Stiftung Friedliche Revolution im Umfeld der Feiern zum 25. Jahrestag der Friedlichen Revolution auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz ausgerichtet wurde, in diesem Jahr eigentlich durch Deutschland reisen sollte. Quasi als Leipzig-Botschafter zum 25. Jahrestag der Deutschen Einheit. “Aber das hat leider nicht geklappt”, sagt Gesine Oltmanns, die für die Stiftung das Projekt kuratiert.
Aber das war nicht der Grund dafür, wieder die HTWK ins Boot zu holen und wieder einen großen Würfel auf die umkämpfte Platzfläche zu stellen. Eigentliche Ursache sind die diversen Montagsdemos, die Leipzig vor allem im Januar und Februar mal wieder beschäftigten, auch wenn sie mit den Montagsdemos von 1989 nichts zu tun hatten, dafür eine Menge mit den Dresdner Pegida-Ereignissen. Die Stiftung Friedliche Revolution setzte seinerzeit auf ein Mittel, das schon 1989 geholfen hat, Probleme und Frust zu artikulieren: Sie lud in die Volkshochschule zum Dialog ein. Ein Projekt, das durchaus hätte schief gehen können. Doch das Forum entwickelte sich erstaunlicherweise doch zu einer Plattform, auf der Leipziger mit unterschiedlichsten Sichtweisen wieder ins Gespräch kamen.
“Und diese Erfahrung hat uns dann dazu animiert, über das Frei_Raum-Projekt nachzudenken”, sagt Gesine Oltmanns. “Es hat uns gezeigt, wie notwendig solche Gesprächsformen sind – und dass sie eigentlich völlig fehlen.”
Anders als in Polen, ergänzt ihr Mitstreiter aus der Stiftung Friedliche Revolution, Uwe Schwabe. Dort gäbe es deutlich mehr Formen der öffentlichen Diskussion, auch open air.
In gewisser Weise hatte der “Herbstsalon” 2014 so ein öffentliches Forum geboren: Der Veranstaltungswürfel war frei zugänglich. Drinnen fanden Filmvorführungen und Diskussionsrunden statt. Draußen gab es noch eine große Freiluftausstellung zu den Ereignissen auf dem Maidan. Und der Platz, der sonst immer durch Zäune abgesperrt war, war geöffnet, so dass er auch zum schnellen Durchqueren einlud, zum Innehalten, Kurzreinschnuppern. Und da die Diskussion um das Freiheits- und Einheitsdenkmal noch frisch war, gab’s im Gästebuch auch viele Kommentare. “Die Leute teilten uns immer wieder mit: Das ist doch eigentlich unser Freiheitsdenkmal.”
Denn nichts hat sich 1989 als so wichtig erwiesen, wie der unbeschränkte öffentliche Dialog. Wenn man ein klein wenig darüber nachdenkt, waren es sogar ganz ähnliche Gründe, die die Leipziger damals ans Mikro brachten: Sie fühlten sich über die wichtigsten Dinge, die sie direkt angingen, schlecht oder gar nicht informiert. Gefragt schon gar nicht. Und so ähnlich ist es auch irgendwie im Deutschland des Jahres 2015. Es gibt viele Fragen, noch viel mehr Gerüchte und Mutmaßungen, aber kaum Räume, in denen öffentlich über das, was den Sachsen auf der Seele brennt, diskutiert werden kann.
So ein wenig soll der “Frei_Raum” werden. Äußerlich wird er an den “Herbstsalon” erinnern, denn die Hülle baut wieder die Firma Wonneberger nach den Konzepten, die damals von Architekturstudentinnen und -studenten der HTWK Leipzig entwickelt wurden. Ein durchaus neues Konzept, einen solchen Veranstaltungskubus zu bauen. Denn das Gerüst wird nicht von unten her gebaut, sondern quasi vom Dach her, das dann Stück um Stück angehoben wird. Der Vorteil, so Ronald Scherzer-Heidenberger, Architekturprofessor der HTWK, ist die spätere Flexibilität: Das ganze Bauwerk kann noch in der Endphase an das Gelände angepasst und gedreht werden. Mit einer anderen Bauweise wäre das gar nicht möglich. Während der Kubus sich beim “Herbstsalon” Richtung Stadtbibliothek öffnete, wird er diesmal seine werbende Seite zur Innenstadt wenden. Damit soll er einladen, nicht nur wieder die Gelegenheit zu nutzen, über den Platz zu gehen, sondern auch einfach reinzukommen, wenn ein Film läuft, wenn Jugendveranstaltungen zur parallel verlaufenden Demokratiekonferenz stattfinden oder wenn abends zu Diskussionsrunden eingeladen wird.
Und auch da wurden die Veranstalter überrascht. “Als wir vor vier Monaten mit dem Arbeitstitel ‘Aufbruch nach Europa’ begannen, das Programm zusammenzustellen, da dachten wir alle: Na ja, könnte auch eine lahme Sache werden”, sagt Regina Taurick, die das Programm organisiert, das vom 25. September bis zum 11. Oktober im “Frei_Raum” passieren soll. Aber dann überschlugen sich die Ereignisse und der “Aufbruch nach Europa” bekam durch die Flüchtlingsthematik einen ganz neuen Aspekt. Und der Umgang mit den Flüchtlingen erwies sich für Regierungen und Bevölkerungen Europas als Nagelprobe.
Während die einen ohne Federlesens zurückfielen in die alten Zeiten von Nationalismus und Abschottung, andere einander mit Vorwürfen überhäuften und das Management der EU-Kommission sich als völlig überfordert erwies, öffneten andere ihre Grenzen und nahmen die Herausforderung an.
Es gibt also wirklich Berge von Fragen, die unbeantwortet sind und die auch auf hochkarätig besetzten Foren im “Frei_Raum” diskutiert werden sollen, angefangen gleich am Freitag, 25. September, wenn ab 19 Uhr über den “Aufbruch nach Europa” diskutiert wird. Im Podium sitzt dann auch der einstige Grüne Europaabgeordnete Werner Schulz, der erzählen kann, wie viele Gesetzentwürfe im EU-Parlament eigentlich zu Einwanderung und Integration entstanden sind – und auch Jahre später nicht beschlossen sind. Dass Europa derart in Schieflage geraten ist, hat auch eindeutig mit Bremsern in manchen Fraktionen und etlichen Entscheidungsfunktionen zu tun. Im Großen spiegelt sich dieselbe Verwerfung wie im Kleinen.
Und in mancher Diskussion wird sehr wohl die Frage nach der heutigen EU gestellt werden, so auch am 5. Oktober, beim Griechenland-Abend, wo die Griechenland-Krise auch mal “im Spiegel unserer Vorurteile” beleuchtet wird. Aber tatsächlich ist die Griechenland-Krise ja ein Teil der europäischen Finanzkrise, eine Krise, die auch deshalb nicht gelöst ist, weil die augenblicklichen Hauptakteure über ein fiskalisch gedachtes Europa einfach nicht hinaus kommen.
Ein anderer Untertitel des “Frei_Raums” greift den Herbst ’89 ebenso an seiner Wurzel wieder auf: Demokratie und Dialog. Denn nicht nur können sich diktatorische Gesellschaften ändern, wenn sie sich dem Dialog öffnen. Das wird Thema am Lateinamerika-Abend am 4. Oktober, wo Kuba eine Rolle spielen wird. Demokratien haben den offenen Dialog genauso nötig, um nicht abzudriften in Zustände, die in die Katastrophe führen. Denn wohin kommen wir, wenn wir uns wieder einen Überwachungsstaat zulegen? Darüber wird am 6. Oktober diskutiert.
Man kann sich auch einfach auf die Freiluft-Ausstellung einlassen, die diesmal im Umfeld des Weißen Kubus die Flüchtlingsthematik sichtbar macht mit den Fotos der beiden Hannoveraner Fotografen Sebastian Cunitz und Julius Matuschik. Man kann sich auch einfach in den Kubus setzen, wenn einem danach ist. Immer wieder laufen Filme. Am 9. Oktober, dem Tag des Lichtfests, die ganze Zeit Bilder vom Herbst ’89. Aber richtig spannend wird es natürlich abends in den Diskussionen. 80 Sitzplätze bietet der Kubus. Bei schönem Wetter kann man auch draußen vor der Leinwand seinen Herbstabend verbringen.
Und für die ganz Wetterfesten gibt es am 10. Oktober ab 17 Uhr sechs “Tatorte” über den Ost-West-Konflikt nonstop hintereinander.
Eintritt wird keiner erhoben – und das hat auch wieder mit der Förderung des Freistaats Sachsen und der Bundeszentrale für politische Bildung zu tun.
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