Irgendetwas lรคuft schief im Land. Schon eine ganze Weile. In den vergangenen Tagen fiel es auch in Leipzig wieder auf, als ein paar durchgeknallte "Autonome" das Bundesverwaltungsgericht mit Farbbeuteln beschmissen, andere Fahrkartenautomaten sprengten und ein Polizeiauto anzรผndeten. Gleich schwallte wieder das Stammtischgenรถle ins Postfach: DIESE LINKEN!
Achja? Irgendwann macht man diese Mails, die auch aus den Pressestellen des einen oder anderen Abgeordneten kommen, einfach zu und fragt sich: Steigt diesen Leuten die Hitze in den Kopf? Oder haben die schon vorher ihr Denkvermรถgen an der Garderobe abgegeben? Oder sind das lauter Typen wie dieser Trump, der mit Groรmรคuligkeit und sexistischer Anmache die Leute aufstachelt? Geht es um die Trumps dieser Welt โ oder geht da etwas anderes vor sich? Etwas, was ganz unmerklich passiert ist, quasi nebenbei?
Und das nicht mehr auffรคllt, weil wir uns so daran gewรถhnt haben, dass die Welt in Linke, Rechte und โ โdie Mitteโ zerfรคllt. Und weil nur die Durchgeknallten rechts oder links sein wollen, sind wir alle Mitte. Aber was passiert eigentlich mit unseren besseren Teilen, seit wir alle โMitteโ sind?
Und seit wann sind wir das eigentlich? Und warum?
Vielleicht kann man es sogar ziemlich genau benennen. Denn im vergangenen Jahrhundert fand eine Revolution statt. Ganz รถffentlich. Und keiner hat sich gewehrt.
Nein, damit ist weder die Friedliche Revolution von 1989 gemeint noch die Novemberrevolution von 1918. Diese Revolution begann 1979. Man kรถnnte sie die Entleerung der Politik nennen. Es ging von England aus, wo eine Dame namens Margaret Thatcher zur Premierministerin wurde und die staatliche Deregulierung zum Inhalt aller Politik machte. Sie entkernte nicht nur die alte englische Wirtschaft, sie entkernte auch die englische Politik. Und ihre Lieblingsphrase war: โThere is no alternative.โ
Und das Schlimme ist: Ihre Gegner haben es geglaubt und mitgemacht und nie wieder die Kurve bekommen. Sie haben alle Werte รผber Bord geworfen, auf die Europas Demokraten einmal stolz gewesen sind. Nicht nur soziale Sicherungssysteme. Es ist viel schlimmer. Aber daran denken die Meisten gar nicht mehr, wenn irgendwo wieder dieses โalternativlosโ fรคllt. Und die deutsche Sozialdemokratie sieht nach ihrer Schrรถderisierung heute genauso traurig aus wie die blairisierte Labour-Party.
Was wirklich passiert ist, sieht man sehr schรถn, wenn man ein paar Worte in das Ngram von Google eingibt. Diese Maschine filtert Begriffe aus allen Bรผchern, die Google digitalisiert hat. Worte zeigen, wie Gesellschaften denken. Wenn Worte beginnen, inflationรคr gebraucht zu werden, steigen auch bei Ngram die Kurven. So wie ab 1940 beim Stichwort โNaziโ. Zehn Jahre lang erlebte das Wort einen regelrechten Boom โ ziemlich genau bis zur Grรผndung der Bundesrepublik, als auch ein ganzes Land ganz, ganz schnell seine jรผngere Vergangenheit vergessen wollte.
Bis 1975 war das so.
Nicht ganz zufรคllig. Denn in dieser Zeit begannen die neuen Nazis, von sich Reden zu machen. Das, was die vereinte deutsche Presse 1990 ff. gern dem Osten allein in die Schuhe geschoben hรคtte mit Rostock und Hoyerswerda, das war schon lange vorher da, auch und gerade im Westen. Und es war schon lรคngst dabei, sich zu radikalisieren und Formen zu suchen, sich in einer brรคsig gewordenen Gesellschaft wieder gesellschaftsfรคhig zu machen.

Unter anderem in einer Partei, die sich Republikaner nannte und mit der Republik nichts, aber auch gar nichts am Hut hatte. Eines hat diese Truppe aber geschafft: Man kann sich im heutigen Deutschland nicht mehr einfach so Republikaner nennen. Ein schรถnes Wort wurde regelrecht verbrannt.
Ein anderes noch nicht. Aber es erstaunt auch nicht, dass es genauso am Verschwinden zu sein scheint wie das Wort Republikaner: Das ist das Wort Demokrat. Die Ngram-Kurve zeigt es: Schon in den frรผhen 1920er Jahren gelang es den stockkonservativen Krรคften, dieses Wort in Verruf zu bringen. Von 1925 bis 1945 war es geradezu gefรคhrlich, sich in Deutschland als Demokrat zu erkennen zu geben. Mit der Grรผndung der Bundesrepublik รคnderte sich das. Bis in die 1970er Jahre war das ein gutes Wort, verstand sich eine gesellschaftliche Mehrheit als Demokraten.
Aber dann kam diese seltsame Revolution, die mit Graf Lambsdorff und Helmut Kohl auch nach Deutschland schwappte, gern โWendeโ genannt, als hรคtten die Vorgรคngerregierungen moralisch versagt, als wรคren da auf einmal besonders tugendhafte Mรคnner an der Regierung. Dass der moralischen Schรถnwรคscherei auf den Fuร die Flick-Affรคre folgte, ist auch schon wieder Geschichte. รber die wir hier nicht reden wรผrden, hรคtte damals nicht das brรคsige Geschwรคtz von โder Mitteโ angefangen. Nicht nur bei den Konservativen, die sich auf einmal nicht mehr Konservative nennen wollten, sondern Bรผrgerliche. Bรผrgerliche Mitte. Der Begriff schwappt heute durch jeden Wahlkommentar. Alle Parteien scheinen um dieses graue, farblose Etwas in der โMitte der Gesellschaftโ zu kรคmpfen โ als wรคre es schon ein Wert an sich, sich mitten in der Gesellschaft zu befinden, am konturlosesten aller Orte, Durchschnitt in allem โ vom Verdienst bis zum Geschmack.
Mainstream รผber alles
Vielleicht โ das ist jetzt eine Vermutung โ hat das auch mit dem Triumph des Privatfernsehens zu tun, das ja sein Ideal immer in der groรen Quote, dem Mainstream gesehen hat. Mainstream ist immer das, was die Meisten gut finden, machen, tun, tragen, kaufen, goutieren oder einfach nachmachen, weilโs โalle machenโ. Eine ganze Republik hat sich in den vergangenen 35 Jahren diesem dubiosen grauen Mittelmaร angedient. Auch die Strategen der Parteien, die natรผrlich agiert haben wie Verkรคufer, die fรผr ihr Produkt eine grรถรtmรถgliche Kรคufermenge versucht haben zu umwerben. Auch das ist ein Grund dafรผr, warum sich Wahlplakate so รคhneln und alle Slogans so derart platt und nichtssagend sind. So mittelmรครig, phantasie- und gehaltlos.
Und warum sich mittlerweile 40, 50, 60 Prozent der Wรคhler von Politik und Wahlen nicht mehr angesprochen fรผhlen. Es hat โ denke ich โ wenig mit der Zersplitterung der Gesellschaft zu tun, aber viel mit der Entkernung der Politik. Denn um โdie Mitteโ anzusprechen, muss sich Politik komplett entkernen, darf keine (geistigen) Ansprรผche mehr stellen und auch keine komplizierten Erwartungen haben an solche Dinge wie Rรผckgrat, Anstand, Ehrlichkeit, Geradlinigkeit oder gar so etwas wie moralische Positionen.
Die deutsche Politik sieht heute so aus, wie sie nach der โmoralischen Wendeโ hat werden mรผssen: bieder, kernlos, konturlos. Ohne Visionen. Und โ das ist das Schlimmere โ ohne Charaktertypen, die sich ohne Angst vorm Grinsen der zufriedenen Mitte noch Demokraten und Republikaner nennen kรถnnten.
Es ist โdie Mitteโ, die unser politisches Leben grau gemacht hat, inhaltsleer, dafรผr gefรผllt mit jederzeit verfรผgbarer Hรคme. Denn was sich da pรถbelnd auslรคsst auf der Straรe, im Internet und anderswo, das sind Leute, die sich fรผr โdie Mitteโ halten. Und trotzdem nicht zufriedenen sind โ wie verwรถhnte Kinder, die mittlerweile ein Recht darauf zu haben glauben, immer verwรถhnt zu werden. Und die auch gelernt haben, dass nur sie wichtig und โetwas wertโ sind. Auch daher diese Verachtung allem gegenรผber, das noch so etwas wie Gefรผhle zeigt. Es ist die Arroganz der โMitteโ, die in Worten wie โGutmenschenโ und โWutbรผrgerโ steckt, eine Verachtung fรผr alle, die glauben, dass Dinge anders funktionieren kรถnnten, als sie derzeit laufen. Die von Alternativen reden, obwohl es doch gesagt ist, dass alles โalternativlosโ ist.
Die graue Mitte liebt das Wort โalternativlosโ. Denn zur Mitte gibt es ja keine Alternative, oder? Alles, was von der grauen, flauen Durchschnittlichkeit abweicht, ist ja schon radikal. Oder extrem. Aus der Mitte gefallen eben โ und damit ohne Gnade.
Und weil das so ist, hat man auch nicht mehr viel รผbrig fรผr so sperrige Dinge wie Demokratie oder Republik. Die Worte schwinden unรผbersehbar aus dem Sprachgebrauch. Wer nicht auf sich aufmerksam machen will, der nennt sich bรผrgerlich. Was zwar nichts heiรt. Es ist ein Wort ohne Inhalt, erst recht, wenn man vorn das Staats- weglรคsst, das aus dem Bรผrger einen Staatsbรผrger gemacht hat. Vor vielen, vielen Jahren.
Doch der Staatsbรผrger, der franzรถsische Citoyen, stirbt aus.
Mit der Hochkonjunktur der entpolitisierten Mitte hat der Niedergang des Staatsbรผrgers begonnen, jenes Bรผrgers, der sich noch fรผr seinen Staat verantwortlich fรผhlt. Und es ist keine รberraschung, wenn mit dem Niedergang des Staatsbรผrgers der Aufstieg des Wortes Wohlstand begann.
Auch das auf Google-Ngram sehr gut zu sehen. Der Bรผrger in der viel gepriesenen Mitte ist kein Staatsbรผrger, sondern ein Wohlstandsbรผrger. Und genau das ist gemeint, wenn heute von bรผrgerlich die Rede ist. Der Besitzstandswahrer ist zum Kern der Politik geworden, der besitzende, hortende, sich รผbers Haben definierende Mensch.
Traurig ist das. Und brandgefรคhrlich. Denn wenn es um Geld und Besitz geht, fรผhlt sich dieser mittelste aller Menschen im Kern getroffen, in seinem Sein, das ja kein Sein mehr ist. Denn Wohlstand definiert sich ja in Deutschland eindeutig nicht durch so seltsame Dinge wie Liebe, Respekt, Brรผder- und Schwesterlichkeit, Freiheitsliebe, Nรคchstenliebe oder รคhnlich suspekte Dinge. Dinge, die durchaus einen Wert haben, wenn man sie erkennt und hegt und pflegt.
Aber lohnt es, sie zu pflegen, wenn man damit die Liebe der Allmรคchtigen verliert? All der Snobs, die nur noch โdie Mitteโ umwerben?
Keine ganz unwichtige Frage. Denn ein Problem der โMitteโ ist ja auch ihre grรคuliche Leere. Deswegen ist sie ja so wรผtend, so verzweifelt. Wohlstand fรผllt diese Leere nun einmal nicht. Die Philosophen unter den Menschen wissen das, die Ahnungslosen merken es nur und lassen ihre ganze Verzweiflung als Wut und Hass und Beleidigung heraus. Denn so wรผtend ist man ja nur, wenn man sich um das Wichtigste beraubt fรผhlt.
Da dominiert man nun alle Hitparaden, Umfragen und Playlists, bekommt alles, was dem eigenen Geschmack entspricht โ und doch fรผllt nichts davon die Leere, schafft keine dauerhaften Freuden, im Gegenteil: Man landet in einem Meer der Banalitรคten. Es ist kein Wunder, dass so etwas wรผtend macht.
Nein, empfehlen kรถnnen wir wirklich niemandem, zur groรen, mรคchtig-gewaltigen Mitte gehรถren zu wollen. Lebt lieber, Leute. Traut euch zu lieben, zu schaffen und zu verรคndern. Und glaubt niemandem, der euch sagt, die Dinge seien alternativlos. Der will euch nur in der Mitte haben, da, wo die heulenden Seelen verzweifelt auf Erlรถsung hoffen.
Die Mitte ist ein hรถchst deprimierender Ort.
Kleines Zwischenfazit: Begriffe wie Rechte, Linke, Mitte sind vรถllig ungeeignet, die politischen Gemengelagen unserer Gesellschaft zu beschreiben. Sie dienen eher zur Verschleierung. Und sie sind Zeichen fรผr eine oberflรคchlich gewordene Politik, die vor allem vor einem Angst hat: Verรคnderung.
Mit irgendetwas muss sie aber doch gefรผllt sein? Dazu kommen wir noch in nรคchster Zeit an dieser Stelle.
Empfohlen auf LZ
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Es gibt 8 Kommentare
รh โฆ Stefan, sind Sie Konstrukteur von โich-verstehe-nichts-und-mutmase-mal-willd-und-quer-sinnfrei-drauf-losโ? Natรผrlich nicht ohne Krawall zu machen und jemandem in die Kniekehle zu treten.
Gehen Sie zurรผck in Ihr Loch und versuchen Sie es ggf. mit Buch Nr. 6.
รhโฆ JG, sind Sie beleidigt, weil Frank sich nicht Ihrer Meinung anschlieรt?
Sie haben ja schlieรlich nur C&P bemรผht in der sicheren Stube am Rechnerโฆ
โIch schlieรe mich voll und ganz der Meinung von Sabine und Monika an und kann nur alle ermutigen, wie Sie es schreiben, lebt, liebt, schafft, verรคndert. Habt Mut zur Alternative und DENKT selbst.โ
Worte, nichts als nur schรถne Worte.
Oder gibt es schon konkretere Ideen als nur diese?
(Ach es ist so schรถn sicher, am Rechner, zu hause.)
Danke fรผr diesen Volltreffer, Sie bestรคtigen mit einer, ich glaube fast unwiderlegbaren Beweisfรผhrung, den Zustand unserer Gesellschaft. Ich schlieรe mich voll und ganz der Meinung von Sabine und Monika an und kann nur alle ermutigen, wie Sie es schreiben, lebt, liebt, schafft, verรคndert. Habt Mut zur Alternative und DENKT selbst.
Wo findet man noch so treffende Beschreibungen wie hier.
Daher :โL-IZ ist alternativlosโ
Ich habe noch die echten politischen Auseinandersetzungen der 60-84er Jahre erlebt. Da hatten Politiker noch gesellschaftliche Fiktionen und einen stรคndigen โStreitโ um die gesellschaftliche Weiterenetwicklung in der BRD. Zeiten in denen Politik noch polarisierte, interessierte und fesselnd war.
Die obige Analyse entspricht zu 100 % dem was uns inzwischen widerfahren ist.
Respekt Herr Julke!
Danke Herr Julke, Sie haben mir aus der Seele gesprochen, ich kรถnnte es bloร nicht so gut ausdrรผcken.
Das sitzt. Danke, endlich bringts mal jemand auf den Punkt.
Jeder Seiltรคnzer benรถtigt ein ausladendes Rechts und Links. Nur so kann er die Balance finden und halten.
Hysterisches Geschrei ist weniger gefragt.
Zitat Anfang:
Lexikon der Neurowissenschaft
Seiltรคnzergang
Seiltรคnzergang, Gehen auf einer Linie als neurologische Untersuchung des Gehens unter erschwerten Bedingungen zur Aufdeckung von leichten Paresen und Gleichgewichtsstรถrungen.
Zitat Ende.
Unser land ist arg gestรถrt.