Übermorgen ist ja schon wieder 1. September - von jeher ein Datum mit tiefer symbolischer Aufladung. Die deutsche Wehrmacht begann an diesem Tag bekanntlich, proaktiv die Nachbarländer touristisch zu erschließen, in der Zone hingegen verbanden die Kinder mit dem Septemberbeginn vor allem den alljährlichen Beginn ihres neuen Schuljahres. Seit 25 Jahren ist Gott sei Dank mit dieser Gleichmacherei Schluss. Der moderne Mensch will schließlich nicht seine Ferienplanung durch das quälende Rad der Routine bestimmen lassen.
Der will auch mal im Juni fort, um dann schon Anfang August wieder auf der Deutschen oder der Schulbank neu durchzustarten. Außerdem läuft man auf diese Weise auch weniger Gefahr, im Urlaub auf herumliegende Bayern zu treten. Alles in einem – eine grandiose Entwicklung!
Auch sonst hat sich viel zum Guten gewendet. Schule sei jetzt “mehr als die Stundentafel” hat die sächsische Kultusministerin zum Beispiel im letzten Jahr sehr richtig herausgefunden. Heute konkurrieren hinter dem Schultor Algebra und Schönschreiben mit Hiphop, Schmuckdesign und Kursen zur Entspannung.
Vor allem letztere sind gefragt in letzter Zeit. Eine Studie des Deutschen Kinderschutzbundes enthüllte unlängst, dass fast zwei Drittel der Sieben- bis Neunjährigen unter Schulstress litten und den Wunsch nach Entspannung äußerten. Süß irgendwie, wie selbstbewusst Kinder heute über ihre Gefühle reden können. So etwas hätten wir uns nie getraut.
Schlichtweg nicht sensibel genug hat man auf uns damals reagiert. Kopfweh, Bauchschmerzen, Unwohlsein und Druck – alles Phänomene, die bekanntlich den Großteil heutiger Siebtklässler akut betreffen, wurden schlichtweg nicht thematisiert. Mal war einer krank von uns wegen Mandelentzündung oder Ruhrverdacht, aber sie schieden nicht in Scharen wie Primaner im Ersten Weltkrieg täglich aus unseren Reihen. Einfallslos ging man mit Malaisen um, dabei ist das alles doch ein so lohnenswertes Feld, das vor allem auch in der Schule bestellt werden kann.
Wenn Schüler leiden
Das weiß man natürlich alles erst heute. Arnold Lohaus von der Universität Bielfeld weiß sogar noch mehr: “Wiederkehrende Bauch- und Kopfschmerzen sind Signale, die ernst genommen werden müssen. (…) Wenn Schüler leiden und ihren Alltag nicht mehr bewältigen können, läuft etwas falsch.” Entspannung alleine reiche nicht aus, so der ostwestfälische Forscher, Lerntechniken und Zeitmanagement müssten ebenfalls behandelt werden.
Endlich! Yogaübungen und Antikopfschmerztraining sind nun auch in der Schule angekommen. Der Kinderschutzbund hat es auf die geniale Formel gebracht: “Je mehr Kinder wissen, wie sie sich entspannen können, desto seltener sind sie gestresst.”
Wahnsinn! Gott sei Dank sind wir dann endlich weg von der blöden und nervtötenden Wissensvermittlung und endlich in der Realität angekommen.
Was nutzt einem schon zu wissen, was die Hauptstadt von Honduras ist, wenn man nicht mal intus hat, dass man bei Kopfschmerzen wegen dieses stressigen G8-, G9-, G-Duschen-Konzepts einfach eine Fantasiereise antreten muss. Nach Australien zum Beispiel. Wo man leider auch Honduras vermutet.
Ich hätte trotzdem einen Gegenvorschlag zu machen, um das nunmehr 25 Jahre lang zusammengewachsene Schulsystem ein bisschen von den letzten bösen Zungen zu befreien, die sich trotz all der vorbildlichen Progression wagen, Witze über unser deutsches Schulsystem zu machen. 16 Kultusminister säßen um eine Schnecke und warten, dass sie sich bewege, heißt es da gar manchmal maliziös.
Vorschlag einer Irren
Bei meinem Vorschlag handelt es sich selbstverständlich um die wahnwitzige Idee einer Irren, aber wer irre ist, wird gottlob in der Geschichte auch immer mal wieder neu verhandelt.
Ich wünsche mir eine 10-klassige allgemeinbildende Schule – obligatorisch für alle, außer für die mit schweren Lernbehinderungen und groben Rissen in der Schüssel. Sie sind Menschen, die es verdienen, stärker ins Blickfeld genommen zu werden. Inklusion aber nur um der Inklusion willen, findet nicht statt. Des Weiteren hat man von Humbug-Trennungen in Haupt- und Realschülern abzusehen, auch wird keiner nach der 4. Klasse aufs Gymnasium geprügelt.
Die Schule besitzt keinerlei komplizierten Überbau, kein detailliert auf die Spitze getriebenes Konzept, sie ist einzig humanistisch-klassischen Werten verpflichtet. Man ist sich einig darüber, was zu einem Kanon der Allgemeinbildung in Europa gehört.
Es geht darum, ein mündiges Subjekt heranzuziehen. Menschen dazu zu befähigen, am Gemeinwesen teilzunehmen. Urteilskraft und Kritikfähigkeit sollten sich auf einem profunden Wissensstamm aufbauen, zu dem sogar etwas Exotisches wie sicheres Schreiben und das Beherrschen der Grundrechenoperationen gehört.
Heiter und souverän
In jeder Schule gibt es Deutschklassen, in denen Zuwanderer-Kinder möglichst rasch und unkompliziert mit der deutschen Sprache vertraut gemacht werden. Die Schüler- und Lehrerschaft ist heiter und souverän genug, diesen Menschen mit besonderer Hilfsbereitschaft und Offenheit zu begegnen. Interesse an fremden Kulturen wird nicht angeordnet, aber gern gesehen.
Nachmittags werden Aktivitäten angeboten, die leibesertüchtigender, künstlerischer, sprachlicher oder anderweitig schulfachvertiefender Form sein könnten. Sie sind freiwillig wahrzunehmen. Man kann auch nach Hause gehen und sich dann auf der Straße herumtreiben oder sich langweilen oder die eigenen Eltern besser kennenlernen.
Lehrern wird ein Grundvertrauen entgegengebracht, das im Grunde jeder erwachsene Mensch verdient hat, das damit verbunden ist, dass man ihnen die Freiheit und die Möglichkeit gibt, das zu unterrichten, wovon sie begeistert sind. Man verschone sie mit ständiger Gängelei, sie müssten “moderne Lernmethoden” anwenden, als verändere sich das Gehirn des Menschen alle fünf Jahre in umgreifender Manier.
Der Vermessungs- und Evaluierungswahn wird nicht durch künstlich erzeugte Wettbewerbe wie PISA angeheizt. Im Bildungswesen würden mehr Menschen unterwegs sein, die verstanden haben, dass ästhetische und moralische Sensibilität kaum messbar ist.
Wie das umzusetzen ist? Vermutlich überhaupt nicht. Der Vorschlag ist schon allein deshalb ein Lacher, weil ihn alle verstehen würden und er einfach zu wenig kostet.
Ich entschuldige mich schon jetzt dafür: Aber wir 1.September-Eingeschulten haben eben nicht gelernt, wie Fantasiereisen richtig gehen.
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