Was der Fall Böhm so mit sich bringt

Der Fall des verhafteten Enrico Böhm erregt die Gemüter. Einige NPD-Freunde sehen ihn vorrangig als Opfer, bei vielen Neonazigegnern und Geschädigten des 32-Jährigen wird es wohl ein entlastendes „Endlich“ über die Verhaftung gegeben haben. Ein Beitrag über eine abendliche Diskussion, weniger über den Fall selbst und die ersten Berichterstattungen. Denn im Umfeld der Verhaftung des NPD-Stadtrates kommt derzeit das gesamte Repertoire einer gewissen Pathologie zum Vorschein.

Das Schreiben von Artikeln und deren enthaltenen Darstellungen kann sich mitunter schwierig gestalten. Stimmen die Aussagen, die man getroffen hat? Hat man auch richtig zitiert und zusammengefasst? Welcher Gesamteindruck könnte dem Leser erscheinen? Ein gewisser Marko, firmierend unter dem Nutzernamen Wahr_Sager beim Nachrichtendienst Twitter, zeigte sich über die L-IZ.de-Berichterstattung am 4. August etwas ungehalten. Die Struktur des Artikels war recht stringent gehalten. Kurze Einleitung mit einer Betrachtung zu der Kriminalakte des 32-jährigen NPDlers. Danach kam die Darstellung der Polizei und daran angehängt war die zu erwartende gegensätzliche Darstellung des NPD Kreisverbandes. Am Ende ein feststellender Satz.

Dem „Wahrsager“ war die Darstellung zu suggestiv, gar eine Vorverurteilung des nationalen Aktivisten wurde vermutet. Er verwies zunächst als Beweis auf einen Leserbrief auf einem Blog. Ohne Kenntlichmachung handelte es sich dabei um die Mitteilung des NPD-Kreisverbandes, dem Böhm selbst vorsteht. Was dem Nutzer relativ egal war – es war schließlich eine authentische Gegendarstellung. Da heißt es erwartungsgemäß, der Fahrradfahrer hätte ein Linker sein können, der womöglich gezielt gelogen hat um Herrn Böhm zu belasten.

In einer längeren Diskussion kam man zu der Erkenntnis, dass weder der Autor des Beitrags noch der Twitternutzer selbst anwesend waren. Bei tagesaktuellen Artikeln, die sich auf bereits vergangene Ereignisse beziehen, ist eine vor Ort-Recherche unmöglich. Weil Doctor Who nicht zu regelmäßigen Recherchefahrten in seiner Zeitmaschine einlädt, bleiben daher nur die Angaben Dritter, die als solche gekennzeichnet werden müssen. Stellte sich nun die Frage, wie der vorbestrafte Stadtrat letztendlich in U-Haft wanderte.

Eine Zeugenvernehmung bei der Haftprüfung, wie sie die NPD monierte, ist bei solchen Terminen unüblich und muss nicht stattgegeben werden – aber egal, man ist bei der NPD oder sieht sich per se als Opfer des „Kampf gegen Rechts“ – wie Marko. Wer nur halbwegs eine Ahnung hat, welch kriminelle Karriere Enrico Böhm auf dem Kerbholz hat, dürfte sich über die Verhaftung nicht wundern. Ob alles davon mit seiner “rechten” Gesinnung zu tun hat, ist fragwürdig. Denn im Vordergrund scheint eher schlichte Gewalt als Lösungsstrategie für die Herausforderungen des Alltags und beim Aufeinandertreffen mit anderen Menschen zu stehen.

Im Laufe des Abends eröffnete der fleißige Diskutant einen Großteil seiner eigenen Einstellungen. Für Kenner der Neonazi-Szene alles bekannte Floskeln: Die BRD ist ein Unrechtsstaat, siehe nun ja wieder im Fall Böhm. Es gibt keine rechte Opposition mehr, weil man in Deutschland dagegen so hart vorgeht. Alle Journalisten sind links und diskreditieren immer nur die Rechten, während man über die linke Gewalt schweigt oder sie gar positiv darstellt.

Offenbar blendet man hier einiges aus, aber der Fokus scheint dies nicht mehr anders zuzulassen.

An Quellen wurde das Who-Is-Who an Literatur geliefert, was man als Neonazi, freiheitlich konservativer Freidenker oder kritischer nicht Mainstreammedienkonsument so liest. Jürgen Elsässers „Compact Magazin“, Götz Kubitscheks „Sezession“, die Zeitschrift „Eigentümlich frei“, bei dem mehrere Sezession-Autoren mitschreiben. Es sind alles Blätter, die man, neben stolzen Eigendklarationen mancher der Genannten, unter den Begriff Neu Rechts stellt und die sich für die bedrohte Tierart der Deutschen einsetzen. Der Kopp-Verlag durfte als Quellenlage für die Erkenntnisse nicht fehlen, der mit der ehemaligen Tagesschau-Sprecherin Eva Herman wirbt und Bücher über Esoterik oder sonstigen Verschwörungstheorien vertreibt. Kubitscheks Publikationen sind im Verlag erhältlich.

Ebenfalls einige Verweise auf diverse kritische Internetseiten und lose Artikel wurden vom streitbaren Marko präsentiert. Ein Zettelkasten, teils wahllos zusammengeworfene Versatzstücke der immer gleichen Grundüberzeugung.

Gar exemplarisch verlief anschließend die Diskussion über eine Studie über Politikjournalisten. Im vom Deutschen Fachjournalisten Verband herausgegebenen Dokument der FU Berlin äußert die große Mehrheit zum Selbstverständnis, dass sie komplexe Sachverhalte erklären und über Themen neutral und präzise informieren wollen. Besonderes Interesse hat man im Politikressort an der Kritik von Missständen. Über ein Drittel der JOurnalisten in dieser Studie fühlen sich keiner Partei zugeneigt. Der Rest sieht sich in absteigender Reihenfolge bei den Grünen, SPD, CDU/CSU, gefolgt von FDP, Die Linke und sonstigen Parteien. Für Marko die Bestätigung seiner Theorie – 69 Prozent der Politikjournalisten sind links.

Für die Frage, ob Grüne im Sinne des Naturerhaltes nicht eher konservativ und die SPD der vergangenen Jahre stark neoliberal beeinflusst sind, blieb kein Platz mehr. Was “links” selbst letztlich sein soll, musste ebenso offen bleiben.

Denn weiter – tief in der Nacht – wurden dann die wirklich “kritischen” Themen ausgepackt. Bombenterror und Kriegsverbrechen in Dresden im Zweiten Weltkrieg und ungesagte Wahrheiten über den Holocaust, inklusive einer Kurzausarbeitung. Möglichkeiten zum Erkenntnisgewinn gingen gegen Null. Forschungen zu den besagten Themen seien „pseudo-wissenschaftlich“, hieß es, weil man nicht ergebnisoffen gesucht hätte.

Fakten werden negiert, da sie das eigene Weltbild nicht stützen.

Die Richtung muss beibehalten werden. Und immer wieder dieser diffuse Kampfbegriff „Links“ in Dauerwiederholung. Was genau damit gemeint war, wurde auch jetzt nicht klar. Es handelte sich irgendwie um alles, alle Anderen und nichts zugleich. Und es kam das Gefühl auf, dass es vor allem das war, was Marko störte.

Was bleibt von dieser Diskussion? Der Nachgeschmack eines vielleicht schon pathologischen Falles. Betrachtet man Darstellungen von paranoiden Schizophrenen, erkennt man auffällige Parallelen. Keine Lüge kann zu aufwendig sein, keine List zu ausgetüftelt, um als Opfer böser Machenschaften zu gelten.

Eine Wahrnehmung, dass es auch verschiedene gesellschaftliche Fraktionen mit unterschiedlichen Interessen gibt, dass Menschen mitunter gute Gründe haben, sich gegen rassistische Einstellungen zu positionieren, war nicht vorhanden. Man kann sich als der Bescheidwisser unter den Opfern der Gesellschaft sehen. Schuld allein die anderen, weil alle gegen einen sind, das eigene, “rechte Wir” wird erbaut, um dagegenhalten zu können.

Und das liest man, wieder und wieder und wieder im Netz.