In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen war es Brauch, dass auf Bahnsteigen kleine Wagen herumgefahren wurden, an denen sich Reisende ein Kissen für einen geringen Obolus mieten konnten. Ein verpacktes kleines Kissen, das sie am Zielbahnhof wieder abgaben und das ihnen unterdessen - vor allem in der Holzklasse - ein behaglicheres Schläfchen ermöglichte. "Siesta-Kissen" wurde diese zarte Reiseerleichterung charmanterweise genannt.
Siesta. Wenn das ganz große Glück mal wieder auf sich warten lässt, heißt es mit dem kleinen ganz besonders behutsam umzugehen. Und Siestas gehören zweifelsohne zu den beglückendsten Inseln im Alltag.
Doch leider hat in Europa der Mittagsschlaf kaum noch eine Lobby.
In einem Landstrich wie dem hiesigen, wo bekanntlich vor Jahrhunderten Martin Luther relativ erfolgreich herumzumarodieren wusste, schon mal gar nicht. “Luther und Lust” mögen alliterationsschwanger wirken, mehr dann aber auch nicht.
Dabei besteht heutzutage selten ein solches Einvernehmen zwischen Medizinern und Normalbevölkerung wie in der Haltung zum Nutzen einer Siesta. Sich mittags ein wenig hinzulegen, scheint offensichtlich das Beste zu sein, was einem Menschen in der Tagesmitte so passieren kann: “Mittags nicht zu schlafen, heißt streng genommen, sich über unsere eigene Biologie hinwegzusetzen”, weiß zum Beispiel der Regensburger Schlafmediziner Professor Göran Hajak.
Eigenartig. In Zeiten, wo Menschen die eigene Biologie offensichtlich derart wichtig zu sein scheint, dass es Zeitgenossen gibt, die beim Fensterputz oder der Behandlung ihrer Neurodermitis auf Eigen-Urin setzen oder Fünfzigjährige auf Muttermilchshakes fremder Frauen schwören, um etwa ihr Immunsystem zu stärken oder nachlassende Manneskraft ein wenig hoch zu prügeln, setzt man die Siesta leichtfertig auf die Liste der Überflüssigkeiten.
Dabei wussten auch in deren Fall die Altvorderen längst bestens Bescheid.
Man hätte nur einmal hinhören müssen. Churchill zum Beispiel, der wohl eindrücklichste Repräsentant dafür, dass gesundes Leben vor allem etwas mit gesundem Menschenverstand zu tun hat, soll einmal gesagt haben:
“Zwischen Mittagessen und Abendessen muss man schlafen. Denken Sie bloß nicht, dass Sie weniger Arbeit schaffen, wenn Sie am Tag schlafen. Das ist eine dumme Idee von Leuten ohne Vorstellungsvermögen. Sie werden sogar mehr bewerkstelligen. Sie bekommen zwei Tage in einem – nun, mindestens eineinhalb, da bin ich mir sicher.”
Und das ist nur allzu verständlich: Dem Tag noch eine weitere Phase des Neuanfangs zu widmen, ist doch geradezu eine göttliche Vorstellung. Eine Stunde mehr in einem Zustand, in welchem der unruhige Geist mal abwesend von diesem Stern zu sein pflegt, wo sich Körper und Geist, sonst kaum separierbar im Laufe des Tages ineinander verschränkt, sofort Adieu sagen, bis ein kleiner Summton auch hier die Wiedervereinigung fordert. Auch nicht ganz unerfreulich dabei: Betrachtet man die Sorgen der Welt durch Jalousien, kriegen sie einen invalidisierenden Knick und hinterm Paravent kommen manchmal sogar quietschvergnügt ein paar frische Ideen hervor.
Warum lassen wir uns das aber so fahrlässig in einer durch und durch getakteten Arbeitswelt ohne Widerspruch verbieten?
Ein Rätsel. Ein Rätsel vor allem vor dem Hintergrund, dass die Welt seit der industriellen Revolution eine so viel einfachere geworden sein muss, blickt man auf all die zeitersparenden Erfindungen, die seither gemacht worden sind: Goethe wäre heutzutage vielleicht schneller von seiner Italienreise zurück, langwierige Briefwechsel waren spätestens mit der Entwicklung des Telefons eher etwas für schrullige Dandys, zweiseitige Handyverträge müssen vom Nutzer kaum noch mit dem Federkiel abgeschrieben werden, um sie schwarz auf weiß nach Hause tragen zu dürfen. Auch der eher lästige Gang zum Brunnen ist entfallen, seit das Wasser auf Signal aus der Wand springt. Und der Mond wird ebenfalls nicht mehr mit der Stange geschoben, seit sich das mit der Elektrizität rumgesprochen hat. Trotzdem stehen immer noch nicht alle von uns im Licht. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Sache.
Zeit müssten wir also inflationär zur Verfügung haben, so viel wie wir davon mittlerweile einsparen. Trotzdem hängt uns die Zunge so weit aus dem Hals wie noch nie im Wettlauf mit der davon trabenden Zeit. Wir schaffen es irgendwie nicht, ihr mal in den Sauseschritt zu greifen.
Und so machen wir weiter: Statt die Mittagsstunden in der Hängematte, auf der Hollywoodschaukel, im Bett, im Heu oder sonst wo zu vertrödeln, trinken wir Kaffee bis zum Umfallen, besonders Unerschrockene greifen gar zum taurinhaltigen Energy-Gesöff. Raus kommt dabei in den allermeisten Fällen trotzdem: nichts.
Keine Frage, reges Tätigsein ist wichtig für den Fortbestand der Gesellschaft und ihrer Mitglieder. Aber wir beherrschen die Balance nur noch kümmerlich. Manchmal müsste eine gute Fee am Wegesrand erscheinen und uns immer mal wieder mahnen: Solange die Siesta als irgendeine Frivolität arbeitsscheuer Elemente gilt und höchstens Kleinkindern, Schwerkranken, Rentnern und Uwe Tellkamp vorbehalten bleibt, wird in dieser Welt die schöne Seele weiter baden gehen.
Dabei wäre sie so einfach und sogar kostengünstig zu retten: Ein Siesta-Kissen zum Beispiel kostete nur eine Reichsmark.
Es gibt 2 Kommentare
Mal mit dem Chef sprechen und auf die Steigerung der Produktivität hinweisen? ^^
Mal angenommen, ich käme – bei flexibler Arbeitszeit – auf die Idee, Mittags eine Stunde schlafen zu wollen – das ginge noch nicht einmal. Oder soll ich mich im Büro vor dem PC auf dem Schreibtisch oder auf dem Fußboden zusammenrollen wie eine Katze!? Die können ja bekanntlich immer und überall schlafen…
Und mal fix nach Hause fahren, macht nur Sinn, wenn ich die Siesta auf min. 4 Stunden ausdehne und verdoppelt glatt das tägliche Verkehrsaufkommen inkl. Umweltbelastung. ..