Das Kind ist eindeutig noch nicht in den Brunnen gefallen. Der Wagen rast zwar mit voller Fahrt, doch hin und wieder greifen beherzte Menschen den Bestimmern ins Lenkrad, um auf andere Wege zu verweisen. Tanner sucht gerade diese und findet sie auch - zum Beispiel die Lehrerin, Mediatorin, Philosophin und Menschin Paula J. Herwig. Schließlich geht es um alles - auch in der Mut-Fabrik - aber ganz besonders um Wege aus dem Dilemma.
Guten Tag Paula Johanna Herwig. In der Mut-Fabrik bieten Sie, zusammen mit Jens Neumann, Giraffen-Mediationen an. Nun sagt meine Nachbarin, nicht ohne Grund, was soll das denn sein, diese Mediation für Giraffen? Bitte klären Sie uns doch mal auf.
Mediation ist ein Konzept, das zur Schlichtung und Lösung von Konflikten angewandt werden kann. Es kann von Familien, Paaren, FreundInnen, NachbarInnen und auch von geschäftlichen Teams genutzt werden. Ich als Mediatorin komme als Unbeteiligte hinzu. Ich bin auf Seiten aller Konfliktparteien und unterstütze bei der Suche nach Lösungen, die die Interessen aller Beteiligten im Blick haben. Ich sorge für einen geschützten Rahmen, damit klärende Gespräche zustande kommen, wenn die Konfliktparteien allein nicht konstruktiv miteinander sprechen können, oder sie bei bestimmten Themen immer wieder anecken und nicht weiterkommen. Solche MediatorInnen gibt es mittlerweile viele und die Bereitschaft steigt, diese Angebote anzunehmen.
Verstanden. Was ist aber Ihr ganz spezieller und konkreter Ansatz?
Was uns – meinen Kollegen Jens Neumann und mich – vom Team “Giraffen-Mediation” ausmacht, ist unsere besondere Haltung und Herangehensweise an Konflikte. Die Grundlage unserer Arbeit ist die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall Rosenberg. Die Giraffe ist das Symboltier der GFK, weil sie das Landtier mit dem größten Herzen ist – daher kommt unser Name. Wir begleiten also – wie andere MediatorInnen auch – Menschen, keine Giraffen. Allerdings ist uns dabei besonders wichtig, dass wir Konflikte nicht an der Oberfläche lösen, zu unbefriedigenden Kompromissen kommen oder die Konfliktparteien mit Argumenten überzeugen. Wir glauben, dass Menschen handeln, um sich Bedürfnisse zu erfüllen.
Da dies aber häufig sehr unbewusst passiert, bringen wir die Bedürfnisse, um die es tatsächlich geht, ans Licht. Den Konfliktparteien fällt es auf dieser Grundlage viel leichter, Verständnis für einander zu erlangen und neue Wege zu entdecken, die alle Bedürfnisse berücksichtigen. Es passieren dabei nicht selten kleine Wunder.
Der Übergang von der “Schwarzen Pädagogik” mit den Demütigungen, der Gewalt und der Produktion kleiner Konsumisten und Funktionierer – hin zu einer gewaltfreien, demokratischen Kommunikation ist ja ein schleichender Prozess. Ist dieser Weg ein sinnvoller? Weltweit werden ja doch eher Gewalt und Brutalität, körperliche Stärke und Zynismus sowie die Fokussierung auf´s alleinige Recht des Einzelindividuums auf Glück und Wohlstand – gern auch gegen die Bedürfnisse aller anderen Menschen – propagiert.
Sinnvoll? Natürlich. Ich bin mir nicht sicher, worum es im Leben geht, tendiere aber zu der Annahme, dass es wohl am sinnerfüllendsten wäre, wenn wir alle unsere menschlichen Bedürfnisse befriedigen. Allein das macht uns glücklich. Vielleicht ist Glück der Sinn. Das Funktionieren-Müssen geht genau in die entgegengesetzte Richtung. Ja, vielleicht haben Sie recht und es gibt ihn, diesen schleichenden Prozess hin zu einer gewaltfreien, demokratischen Kommunikation. Ich möchte jedenfalls alles dafür tun, dass dieser Prozess vorangeht. Wir brauchen ihn. Sonst ist ein sinnvolles Leben für viele einfach nicht möglich.
Sie sind ja auch Lehrerin an der Freien Schule Leipzig für das Fach Gemeinschaftskunde. Können Sie ein bisschen etwas zum Konzept der Freien Schule und Ihrer Arbeit erzählen? Weiß ja nicht jedermensch, was Ihr da macht und wieso …
Ich habe die Freie Schule vor zehn Jahren kennengelernt und bin seitdem überzeugt, dass dieser Ort der beste Ort mit dem Namen “Schule” ist, den ich mir vorstellen kann. Mich überzeugt, dass LehrerInnen und SchülerInnen sich dort auf einer Ebene und als Menschen begegnen. Ich lerne als “Lehrerin” genauso viel von den “SchülerInnen”, wie sie von mir. Unterricht funktioniert dort als Angebot. Wer kommen mag, kommt und ist motiviert und wer nicht kommen mag, kommt nicht und macht in der Zeit etwas anderes, was für sie/ihn Sinn ergibt. Menschen lernen ja kaum, indem ihnen jemand etwas erklärt.
Lernen ist ein viel komplexerer Prozess. Diese Erkenntnis wird in der Freien Schule ernst genommen. Die SchülerInnen haben genug Räume und Zeit, um sich Dinge selbst oder gegenseitig beizubringen und um sich bei Ausflügen und in Projekten auszuprobieren.
Das klingt für Obrigkeitsgewohnte extrem ungewöhnlich. Verantwortung delegieren ist doch so schön einfach. Da ist Ihr Ansatz viel, viel konfliktbeladener, oder?
Die SchülerInnen sind in der Freien Schule an allen Entscheidungen beteiligt, die sie betreffen. Das begeistert mich. Hier wird Demokratie ernst genommen. Bei meinem Bewerbungsgespräch waren ein Lehrer und zwei SchülerInnen anwesend. Wunderbar. In meiner Schulzeit gab es ein kleines Team von “Schülersprechern” für eine ganze Schule, das im Grunde keinerlei Einfluss hatte und vielleicht das Programm für ein Schulfest mit planen durfte…
Das ganze Konzept der Freien Schule macht sie für mich zu einem sehr menschlichen Ort. Die SchülerInnen, die zu mir kommen, haben Lust auf meine Themen. Und wenn sie einmal nicht motiviert scheinen, dann kann ich einfach fragen: “Was ist los? Wie geht es euch?” Und genauso kann ich auch erzählen, wenn ich einmal müde oder unmotiviert bin und muss mich nicht verstellen und funktionieren.
Ulrike Philipp von “Die Aufräumerinnen” erzählte mir, dass Ihr mit der Mut-Fabrik umzieht. Warum denn das? Und wohin? Und wie und wann?
Ja, die Mut-Fabrik zieht um. Wir waren bisher auf der Karl-Heine-Straße. Das ist eigentlich ein idealer Standort, da er gut sichtbar und erreichbar ist. Doch wir sind seit längerem unzufrieden mit vielem in dem Haus und mein Kollege Jens Neumann – Inhaber der Mut-Fabrik – entdeckte die neuen, viel ruhigeren Räume in der Angerstraße 17a. Die sind ganz in der Nähe und über den Straßenbahnhof Angerbrücke auch super zu erreichen. Wir werden dort einen zusätzlichen Raum und insgesamt mehr Platz haben. Außerdem haben wir drumherum auch Platz im Grünen für Außenaktivitäten.
Der Umzug wird Ende Juni sein. Dann geht es dort mit den bisherigen Angeboten von Yoga, Qigong, Familienstellen, Angeboten zu Selbstbehauptung und selbstverständlich Übungsgruppen und Seminaren in Gewaltfreier Kommunikation und mit unserem Mediationsangebot weiter. Neue Angebote unter dem Motto “Habe Mut, du selbst zu sein!” werden folgen. Wir freuen uns drauf! Am Samstag den 4. Juli ist von 10 bis 13 Uhr unser Eröffnungsbrunch. Sie sind herzlich eingeladen!
Sie haben den Master of Arts in Politikwissenschaft. Auch so ein unbekanntes Gebiet. Was lernt man denn da wirklich? Tricksen und Täuschen? Oder etwas völlig anderes?
Ich könnte mir endlich einmal eine Standartantwort auf diese Frage einfallen lassen. Sie wird mir ja häufiger gestellt. Manchmal frage ich mich auch, was ich in den sechs Jahren Studium eigentlich gelernt habe. Aber irgendwie hat es mich doch die ganze Zeit über gefesselt.
Also, die Politikwissenschaft gehört zu den Sozialwissenschaften und beschäftigt sich vordergründig damit, wie menschliches Zusammenleben organisiert wird. Da geht es ganz empirisch zum Beispiel um den Vergleich unterschiedlicher Staatssysteme, aber auch theoretisch um Fragen wie “was ist Demokratie?” oder auch um Genderforschung. Die Themen sind endlos vielfältig und das macht es komplex, aber auch besonders reizvoll. In meiner ersten Vorlesung begrüßte uns der Professor mit dem Satz: “Es gibt keine Wahrheit.” Das hat mich begeistert und über die sechs Jahre hinweg meine Fähigkeit zum Querdenken angeregt.
Manche meinen, ich hätte mir das Studium auch sparen können, wo ich doch jetzt sowieso etwas anderes mache. Das sehe ich anders. GFK ist vielleicht einfach meine praktische Antwort auf die Theorie im Studium.
Dazu sind Sie auch noch ausgebildete Umgangspflegerin. Was es doch alles gibt. Der Begriff Umgangspflegerin ist ja auch ein wirklich gelungener. Was haben Sie denn da gelernt? Und wo? Und wie setzen Sie Ihre Kompetenzen ein?
Oh ja, dieser Begriff ist wirklich etwas absurd. Kaum jemand kennt, was sich dahinter verbirgt. UmgangspflegerInnen können vom Gericht eingesetzt werden, wenn Eltern um den Umgang mit ihrem Kind gerichtlich streiten. Es gibt dann einen gerichtlichen Beschluss, der vorschreibt, wann wer das Kind betreuen darf. Wir UmgangspflegerInnen kommen vor allem zum Einsatz, wenn sich die Eltern einander gegenüber nicht “wohlverhalten”. Das heißt, wenn sie schlecht über einander reden und damit das Kind in Loyalitätskonflikte bringen. Wir sind dann dafür zuständig zu garantieren, dass beide Eltern die beschlossene Zeit mit ihrem Kind verbringen können.
Häufig können die Eltern kein Wort mehr miteinander sprechen oder ein Elternteil gibt ständig das Kind nicht heraus und behauptet, es sei krank. Dann geht es darum, Übergabetermine zu vereinbaren, das Kind von einem zum anderen zu bringen und häufig auch um klärende Gespräche, damit sich die Situation entschärft. Das Ziel ist, dass die Eltern den Beschluss irgendwann ohne Unterstützung umsetzen und das Kind möglichst nicht in die Konflikte hineingezogen wird. Keine leichte Aufgabe, aber eine sinnvolle Herausforderung.
In der Ausbildung lernte ich hauptsächlich die rechtlichen Hintergründe. Ich bin froh, dass ich eigentlich Mediatorin und GFK-Trainerin bin – das hilft in diesem Job weit mehr.
Abschließend hätte ich gern noch von Ihnen einen Lösungsansatz. Wie können wir überleben? 2050 werden wir 9 Milliarden Menschen sein. Was ist praktisch noch zu tun, um den sich rasend gegen die Mauer schleudernden Wagen umzulenken? Frau Herwig, haben Sie Hoffnung?
Hoffnung habe ich, solange ich atme. Das ist mein Lebensmotto, wenn ich eins nennen müsste. Zugleich bin ich auch oft verzweifelt über das ganze Desaster, wie wir Menschen bisher unser Zusammenleben organisieren. Da gibt es noch unendlich zu tun!
Ich mag den zapatistischen Spruch “Es ist nicht nötig die Welt zu erobern, es reicht, sie neu zu schaffen! Durch uns. Heute.” Mein Ziel wäre ein Zusammenleben, das sich an den Bedürfnissen von Menschen orientiert. Unser bisheriges System basiert auf Hierarchie, teilt Menschen und menschliches Handeln in “gut” und “schlecht” ein und funktioniert über Bestrafung und Belohnung. Dieses System verhindert, dass wir überhaupt erst lernen, auf unsere Bedürfnisse zu achten. Darin liegt die Ursache von Gewalt – gegen uns selbst und gegen andere Menschen.
Ich möchte, dass wir beginnen, darauf zu achten, was wir brauchen und danach zu handeln. Ich glaube, dass wir Menschen grundsätzlich sozial und auch auf das Wohl anderer bedacht sind. Wenn wir in Strukturen aufwachsen, die uns Raum dazu geben. Wir könnten damit beginnen, wertschätzende Gedanken über uns selbst zu haben und aufhören, unsere Kinder zu bewerten. Das klingt naiv (meine Bewertung über mich!) und manchmal denke ich auch, ohne ein bisschen Gewalt gegen diejenigen, die alles in der Hand haben, geht es nicht. Aber dann erlebe ich immer wieder, dass eine wertschätzende Haltung eine unendliche Macht hat und wir nichts grundsätzlich verändern können, wenn wir uns selbst nicht grundsätzlich verändern.
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