Amazon, Seattle, Sherlock Holmes, Nepal, Literaturbertrieb, Knasterfahrung und noch viel mehr kommt zur Frage im ellenlangen, epischen Interview mit David Gray. Viel Lesestoff. Aber extrem unterhaltsam. Wie ein gutes Leben: lang und unterhaltsam. Und kaum zu bremsen. Ein Meilenstein der Journalistikgeschichte, kein Kiesel, nein, ein Berg. Noch etwas Mecker über die "Amazonier" und warum Sherlock Holmes ein Anarchist und Freak ist, lüftet der zweite Teil des Interviews.
Du darfst aber auch gerne mal meckern, mach mal.
Gibt’s Dinge, die mich an den Amazoniern aus Seattle aufregen? Und ob. Genauso viele, wie mich an anderen betonköpfigen Branchenmitgliedern aufregen. Die Amazonier pushen so manchen Titel in die Welt, der mir ein Graus ist, entweder, weil er schlecht geschrieben ist oder weil er eine Botschaft enthält, bei der mir als breit gebildeten Europäer der Kamm anschwillt. Ohne Amazon, das wage ich mal zu behaupten: kein Twilight-Phänomen. Und auch kaum den großen Erfolg auch bei uns von so grottig blutleeren (ja, der billige Witz war Absicht) sogenannten Young Adult Titel, deren Höhepunkt darin besteht, dass sich die siebzehnjährigen Helden zum ersten Mal keusch aufs Wängchen küssen. Also, ich hab da mit Siebzehn schon noch anders reagiert.
Erst kürzlich hat ein Feuilletonschreiber einer der großen Zeitungen alle über den Kamm geschert, die ihre Titel bei der Webseite der Menschen aus Seattle hochladen und verticken. Er bezeichnete deren Bücher abwertend als Samisdat. Seither bin ich noch mehr als zuvor davon überzeugt, dass es mit dem deutschen Feuilleton tatsächlich bergab geht. Einem MRR, zum Beispiel, wäre dieser Fauxpas nämlich nicht unterlaufen. Der hätte gewusst, dass Solschenizyn im Samisdat veröffentlicht hat, Sacharow, die Wainer-Brüder und auch Pasternaks Romane und Gedichte als Samisdat verbreitet wurden. Der Wladimir Kaminer hat mir mal gesteckt, dass damals in der UdSSR auch George Orwells “Farm der Tiere” und sogar so billige US- und UK-Pulpthriller als Samisdat vervielfältigt und in den Schul- und Hinterhöfen heimlich verkauft wurden. Volly, mein Freund, das ist doch eine Reihe, in die ich mich mit stolz geschwellter Brust einsortieren lassen würde….
Besonders erfreut mich ja, dass Du die Sherlock Holmes Saga weiterschreibst. Wie kam es denn dazu?
Mister Sherlock Holmes, erster konsultierender Detektiv der Welt und dessen Sidekick Dr. John Hamish Watson waren echte Kindheitshelden von mir. Erinnerst du dich, in der DDR wurden die Holmesstorys in vier oder fünf blauen Paperbacks veröffentlicht. Meine Mutter schenkte jedes Jahr im Wechsel eines davon meiner Schwester oder mir. Das Ergebnis: epische Geschwisterkämpfe um das Recht der ersten Nacht mit dem neuen Holmesbuch. Das war in dem Alter, als du wirklich noch mit der Taschenlampe unter der Bettdecke Bücher gelesen hast. Das hat mich damals für Sherlock angefixt und seit ich ahnte, dass ich wahrscheinlich mal nicht als Lehrer, Förster, Soldat oder Halbkreisingenieur enden würde, obwohl das alles ehrenhafte Beschäftigungen sind, dämmerte mir auch, dass ich mich selbst mal an Sherlock und Watson versuchen würde.
Und dann? Bis jetzt geschah solch eine Geschichte ja doch in vielen Familien.
Später war das dann auch so eine rein intellektuelle Herausforderung. Man könnte es auch als Eitelkeit bezeichnen, falls man zynisch gestimmt ist. Denn, was man an Holmes auch sehen muss: der Typ ist ein Anarchist. Und er ist ein Freak. Das waren zwei Eigenheiten, die ihn mir immer sehr sympathisch gemacht haben. Die es aber auch gar nicht so einfach machen, mit der Figur als Autor umzugehen.
Wenn jetzt die Sherlock Holmes Hardcorefans entsetzt den Kopf schütteln und mit dem erhobenen Zeigefinger wedeln, um darüber zu belehren, dass Mister Sherlock Holmes keineswegs ein Freak war und ein Anarchist schon gar nicht, sondern ganz im Gegenteil das Musterbeispiel eines konservativen viktorianischen Gentlemans, dann erlaube ich mir mal so ein dünn-arrogantes Besserwisserlächeln, wie es der weltbeste Detektiv selbst auch so gut drauf gehabt hätte.
Sherlock ist der Beste in seinem Fach und es ist ein Fach, in dem – beispielhaft dargestellt an Inspector Lestrade – Ignoranz und Rückständigkeit die Schnitten buttert, weil man sich von Seiten der Polizei strikt gegen Holmes moderne Ermittlungsmethoden sperrt. Holmes macht sich auch in den Originalstorys ja oft genug über Lestrade und Scotland Yard lustig.
Für jeden der Scotland-Yard-Männer, in den Storys und Romanen, ist Holmes zunächst vor allem ein Störenfried, der beständig ihre innere Kündigungshaltung hinterfragt. Und dann – der Gipfel der Impertinenz! – in aller Regel auch noch recht behält mit seinen vermeintlich so seltsamen Thesen und Schlussfolgerungen. Um bestehen zu können bleibt Holmes gar nichts anderes übrig, als anarchistisch – und damit für die übrigen Polizisten irrational zu handeln – weil alles andere ihn ja mit denen gemein gemacht hätte, was Holmes wiederum, Dandy, Flaneur und Ausbund an Eitelkeiten, der er eben auch ist, nicht hätte ertragen können.
Da braucht es ja mehr Holmes heute, denk ich mal.
Das sehe ich auch so und arbeite auch dran. Was Holmes tut, und zwar bewusst, ist Obrigkeit zu unterlaufen und zu hinterfragen, und das paradoxerweise sogar dann, wenn er, wie im Fall des “Skandals in Böhmen”, die Interessen jener Obrigkeit vertritt.
Ein Freak ist Holmes allein schon aufgrund seiner intellektuellen Leistungsfähigkeit. Der Junge muss seinen Zeitgenossen, die noch keinerlei Vorstellung von Computern oder Datenbanken hatten, wirklich bedrohlich vorgekommen sein. Und, davon darf man beruhigt ausgehen, eine Menge von ihnen hätte Sherlock sicher lieber in einem Käfig als Attraktion in einer Jahrmarktsshow gesehen, als frei und ungebunden unterwegs auf den Straßen von London.
Weiter, David, weiter.
Der große Albert Camus fand “man muss sich Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen”, während er immer und immer wieder seinen Stein den Berg heraufrollt. Holmes aber muss man sich als geradezu schreiend einsamen Mann vorstellen. So einsam, dass er – so gut er es vermag – mit beiden Händen nach der Freundschaft des ersten relativ gewöhnlichen Mannes greift, der es je gewagt hat, sich ihm naiv offen freundschaftlich zu nähern, nämlich dem guten alten Dr. John Hamish Watson. Dass auch Watson nicht ganz so ohne ist, wie man ihm das öfters unterstellt, ist erst mal noch eine andere Geschichte.
Aber Fakt bleibt: Holmes ist ein Freak, dem sehr wohl bewusst ist, wie weit er von dem Niveau seiner übrigen Zeitgenossen entfernt denkt, lebt, arbeitet.
Das, dieses Spannungsfeld zwischen einer so einsamen, aber extrem stolzen und fähigen Figur wie Holmes und dem deutlich mehr geerdeten Watson, hat mich echt interessiert. Was ich außerdem gut fand, bei der Arbeit an meinen beiden Sherlock Holmes Büchern, war Holmes und Watson ironische, bisweilen fast schon zynische Dialoge führen zu lassen, bei denen Holmes nicht immer nur der Gewinner ist. Denn, so gut er ja in der Aufklärung von Rätseln ist, das alltägliche Leben stellt ihn schon mal vor Herausforderungen, denen ein Watson einfach besser gewachsen ist. Meistens haben diese Herausforderungen irgendetwas mit dem weiblichen Teil der Menschheit zu tun und wie schon Sherlocks und Watsons Erfinder über Watson schrieb: “Er hatte Affären mit fünf Frauen auf vier Kontinenten”, war also in der prüden viktorianischen Bildverschlüsselung eines Arthur Conan Doyle ein Ladiesman und Charmeur. Außerdem ist er ein begeisterter Spieler und Holmes ist ein Koksjunkie. Was kann man an diesem Paar nicht mögen, als Autor oder Leser?
Wahnsinn, Du bist ja richtig enthusiastisch. Das spürt man selten, wenn Menschen von ihrer Arbeit berichten.
Hahaha, jaja. Für einen, der durchaus ein Herz auch für Horror hat, wie mich, war es auch schön, so Szenen schreiben zu können, bei denen Watson und Holmes in einem Pfarrhaus in Whitechapel auf einen Teekessel voller kochenden Blutes stoßen, auf dessen sprudelnder Oberfläche ein Frauenherz schwimmt. Was Holmes zum Anlass nimmt, darüber nachzudenken, ob Frauenherzen tatsächlich zarter seien und daher weniger Zeit bräuchten, um gar zu kochen. Was ihm einen deutlichen Anschiss von Watson einbringt, der solch kühl angestellte Überlegungen durchaus uncharmant und nicht sehr gentlemenlike findet.
Dieses in Blut kochende Herz war übrigens ein Detail aus dem echten Jack the Ripper Fall, der hat das Herz seines letzten Opfers wohl tatsächlich zusammen mit Wasser und etwas Blut in deren Teekessel aufs Feuer gestellt und es kochte da ein, solange bis der Kessel sich verzog und dessen billiges Blech zu schmelzen begann.
Das sind so Perlen des Krimi- und Horrorautors, auf die Du beim recherchieren stoßen kannst. Auch wenn ich gerne zugebe, dass so was für einige Leute zuviel an schrecklichem Detail sein mag. Ich könnte dennoch auch anführen, dass Conan Doyles “Der Hund von Baskerville” ein echter, inzwischen klassischer Horrorroman in der Tradition von Poe und Stevensons “Jekyll & Hyde” ist. Gut, nachdem ich jetzt hier so Begriffe wie Paradox, Flaneur, Dandy und Obrigkeit benutzte, glaubt bestimmt jeder Leser, dass meine Sherlock Bücher genauso trocken seien wie das, was ich gerade über Holmes berichtet habe.
Verdammt.
Teil drei des ellenlangen, epischen Interviews hier auf L-IZ.de
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