Oh ja. Ich bin auch genervt. Nicht von Griechenland. Griechenland fand ich schon immer toll. Die Akropolis und Mykene, Homer und Praxiteles, Archimedes und sogar Sokrates, den alten Nervsack. Aber gerade weil er so nervt, hat er mich immer wieder fasziniert: Was hätte der eigentlich zu dem Affentanz gesagt, den Europas nervigste Politiker mit Griechenland aufführen?

Gar nichts. Natürlich nicht. Er hätte Fragen gestellt. Das war seine Kunst. In ein politisches Spitzenamt wäre er damit nicht gekommen. Nie und nimmer. Dafür hätte schon die politische Konkurrenz gesorgt. Denn das war zu seinen Zeiten nicht anders als heute: Das Volk, dieser so verunsicherte Demos, will von seinen gewählten Vertretern etwas, was es nicht mal bei der Bank am Schalter gibt: Sicherheit. Klare Antworten auf diffuse Fragen.

Und zwar bald. Gleich. Sofort.

So, wie es auch in der Zeitung steht. In allen Zeitungen. Jeden Tag wird nun verkündet: Heute ist der Tag der Entscheidung. In der “Süddeutschen” erinnert ein kluger alter Mann, Jürgen Habermas, daran, dass das jetzt seit fünf Jahren so geht. Seit fünf Jahren wird an Griechenland herumgedoktert, werden immer wieder dieselben Rezepte aus der Apotheke des IWF an dem Land ausprobiert. Die das Land wirtschaftlich regelrecht abgewürgt haben. Das machen auch deutsche Schuldeneintreiber. Keine Frage. Die Lust, einen Schuldiger in seiner Existenz zu vernichten ist groß, gerade dann, wenn kleine Beamte diese Macht in die Hand bekommen.

Und das Land ist voller Beamtenseelen, die geradezu gebannt darauf warten, dass auch Griechenland in die Knie geht und sich aufgibt.

Es ist auch ein großer Hass auf dieses alte Griechenland dabei, eine Verachtung des ungebildeten Spätzünders, der nicht mehr versteht, dass griechische Literatur und Philosophie einmal zum humanistischen Bildungsgut gehört haben. In Deutschland. Und die Schüler manchmal sogar ihren Spaß dabei hatten, sich mit Leuten für Pyrrhus, Damokles, Perikles oder Agamemnon zu beschäftigen. Und mit den Dingen, die sie taten. Und warum sie sie taten. Oder manchmal auch nicht. Griechische Geschichte ist auch voller Rätsel und Orakel, voller Umwege – man denke nur an Odysseus. Eine Geschichte, die die gestrengen Zuchtmeister der Troika vielleicht einmal lesen sollten.

“Leo, was machst du da wieder? Schimpst du auf die Welt?”

“Nein, nur auf die Knicker und Beamtenseelen, Mäuschen. Nichts Schlimmes. Darf ich noch einen von deinen leckeren …?”

Aber nur einen, Murmelchen.”

Es tut nicht gut, griechische Geschichte nur aus Hollywood-Verfilmungen kennenzulernen. Dort wird sie verfälscht. Griechische Epen kennen nicht wirklich viele Ultimaten, wie sie uns nun seit Wochen, Monaten, Jahren zu Griechenland aufgetischt werden. “Paris, rück die Helena wieder raus”, wäre so ein Ultimatum.

Die Folgen sind bekannt.

Nur um mal Marcus Gatzke aus der “Zeit” zu zitieren: “Schon wieder nichts! Alle haben am Montag gebannt nach Brüssel geschaut: Tag der Entscheidung in der Griechenland-Krise, schrieb auch ZEIT ONLINE. Aber nur wenige Stunden später war klar: Da kommt nichts. Der neue Tag der Entscheidung ist jetzt Mittwoch (dann treffen sich die Finanzminister) oder doch erst Donnerstag (dann kommen die Staats- und Regierungschefs erneut zusammen).”

“Tag der Entscheidung”?

Das ist Apokalypse. Gottesgericht. Das ist aber auch typisch deutsch. Preußisch. Genau das Denken, das Deutschland schon in zwei verheerende Kriege gestürzt hat, weil die verantwortlichen Politiker nicht wie Staatsmänner gedacht haben, sondern wie Militärs, denen die Angst vor dem übermächtigen Feind tief in den Knochen sitzt. Mit Ultimaten will man den Gegenüber zwingen zu tun, was man vom ihm verlangt. Und droht auch gleich mal die Folgen an.

In der Erziehung von Kindern nennt man so etwas Schwarze Pädagogik. Nur die allerdümmsten Eltern begreifen nicht, dass sie sich damit selbst in eine ohnmächtige Position manövrieren. Und das Kind zerbrechen.

“Aber Leo! Du hattest doch eine schöne Kindheit, hast du immer erzählt.”

“Hatte ich ja auch. Aber mein Kumpel Mario nicht. “

“War das der mit den Pickeln und dem Gerstenkorn?”

“Genau der.”

“Und warum hast du dir jetzt noch einen genommen?”

“Sind einfach zu lecker. Einer ist für Mario …

In Partnerschaften nennt man das Erpressung. Mit Gleichwertigkeit hat das nichts zu tun. Mit fairem und ehrlichem Umgang miteinander auch nicht.

Mit Erpressung kann man Politik machen. Keine Frage. Die dümmste aller Politiken. Sie kennt nur eine Richtung und nur eine Regel: Entweder gibt der Gegenüber nach und unterwirft sich. Das ist etwas für Sklavenhalterseelen. Oder Gangsterbosse. Oder er gibt nicht nach. Und dann? – Dann nimmt in der Regel eine Kette verhängnisvoller Dinge ihren Lauf. Die dann keiner gewollt haben will.

Aber wer Ultimaten stellt und Fristen setzt, der weiß doch, was er anrichtet?

Augenscheinlich nicht wirklich.

Eins aber weiß er ganz gewiss nicht: Wie man Probleme politisch löst. Und zwar so, dass sie auflösbar werden. Das setzt Beweglichkeit voraus, Denken in Alternativen, Offenhalten von Möglichkeiten und Auswegen. Wirklich gute Politiker lassen sich niemals so weit treiben, dass ihnen nur noch eine Handlungsoption offen bleibt. Gute Politiker haben auch nicht vor, ihren Gegner zu beschämen. Sie wissen, dass man auch Gegnern, die man besiegt, die Chance geben muss, ihre Ehre zu bewahren.

Das alles vermisse ich. Es beruhigt auch nicht, dass ich keinen von all den Hanswürsten gewählt habe, die jetzt medial herumjammern und stöhnen: “Wann hört das endlich auf?”

“Schimpfst du wieder auf die Politiker?”

“Nur auf die anderen. Meine sind zwar schrecklich, aber nicht so ungebildet.”

“Glaubst du denn, die lesen Homer?”

“Das nicht. Aber meine Kolumnen. – Die Dinger sind wirklich lecker, Mäuschen ..

“Finger weg. Leo. Denk an dein Herz.”

“Mach ich doch die ganze Zeit …”

Sie sind alle auf diese unheilvollen “Tage der Entscheidung” geeicht. Sie glauben, dass es einen Tag der Entscheidung gibt. Sie sind im falschen Beruf gelandet.

Politik ist ein Austesten von Möglichkeiten, ein Suchen nach Kompromissen, ein Gefühl haben für machbare Dinge. Das können auch ganz konservative sein. Gute Politiker waren in der Geschichte oft genug stockkonservative Typen – man denke nur an Metternich und seinen Gegenspieler Talleyrand. Aber keiner von beiden hätte sich in seiner Strippenzieherei so verfranst, dass er am Ende nur noch eine Option gehabt hätte. Gute Politiker sind Menschenkenner, die auch wissen, wann es gut ist, wann sie denPunkt erreicht haben, an dem sie viel erreicht haben und sogar nachgeben können, ohne die 100 Prozent, das Absolute, haben zu wollen. Und ohne das Gesicht zu verlieren.

Und sie versprechen auch niemandem fertige und einfache Lösungen. Und schon gar nicht für alle. Sie bekennen Farbe und sagen, für welche Interessen sie stehen.

Was wir jetzt haben, ist blasse Maulerei hinter starren Masken. Für wen stehen die Verhandler, die uns nun die ganze Zeit versprechen, sie würden Griechenland heute, morgen, übermorgen auf “die Lösung” festnageln? Für unser Land? Für Europa? Oder doch – wie Habermas feststellt – für die Finanzmärkte und ihre dubiosen Interessen? Genauso wie 2010 schon, als Griechenland schon einmal schlapp machte, weil es die Lasten der Finanzkrise nicht schultern konnte?

Ein Land wie Deutschland kann es sich leisten, diese Milliarden mit sich zu schleppen, Griechenland nicht. Aber wer über die Staatsfinanzkrise und die vergesellschafteten Schäden des Crashs von 2007 / 2008 nicht redet, worüber redet der dann?

Wer zwingt sie überhaupt, ständig von “Entscheidung” zu reden? Die “Medien”, die so sehr nach einer “Entscheidung” verlangen? Das Publikum?

“Naja, der Entscheidungsfreudigste bist du aber auch nicht, Leolein …”

“Aus gutem Grund, meine Süße. Und einer davon bis du.”

“Und was heißt das jetzt wieder?”

“Wähle klug und wähle die Richtige, das heißt das. Die Dinger sind wirklich zu lecker …”

“War das jetzt so ein verstecktes Dingsbums?”

“War es … mmmhhh ..”

Oder haben sie einfach verlernt, das Leben als Prozess zu begreifen, als ein Lösen in kleinen Schritten. Ein Arbeiten an einem großen Projekt, von dem keiner weiß, wie es am Ende aussieht? Auch dafür haben die Griechen ein Wort. Das wird Heraklit zugeschrieben: Panta Rhei. Alles fließt. Die Dinge entstehen nur, weil sie in Bewegung sind. Und was wir erfassen, ist immer nur ein Teil des Prozesses.

Die besten Politiker sind Prozess-Beförderer, sie machen Dinge möglich. Das ist eine hohe Kunst.

Und etwas völlig anderes als ein fälliger Kredit. Das hat selbst Gobseck gewusst. Sein “Vater” ist zwar kein Grieche, sondern ein Franzose, Balzac heißt der Bursche. Aber der alte Wucherer Gobseck wusste ganz genau, wie ein bisschen Geld hier, ein bisschen Strenge da, eine kleine Verbindlichkeit dort Dinge geschehen ließen.

Das fehlt. Ganz unübersehbar. Vor laute “Bastas” und “Alternativlos” merken wir gar nicht mehr, dass es in der großen Politik kaum noch Menschen gibt, die fähig sind, Dinge zu ermöglichen, Prozesse auszulösen, Großes entstehen zu lassen. Zum Beispiel ein kleines Land wie Griechenland wieder – naja – an Land zu holen, aufs Trockene.

Dazu bräuchte man Talent und den Mut, auch mal nachzugeben, nicht morgen gleich schon wieder fertig sein zu wollen, sondern Dinge fließen zu lassen, Alternativen zu öffnen, Angebote zu machen. Nicht nur mit dem Schuldschein zu winken. Das kann jeder. Aber das ist keine Politik.

Das ist etwas für Leute, die nie gelernt haben zu warten. Die immer alles gleich haben wollen. Kinder aus der Quengelzone. Erwachsene mit ADHS-Syndrom.

Ich hätte fast schon geschrieben: “Macht nur weiter so.” Aber das will ich eigentlich nicht.

Die Griechen nerven mich nicht. Haben mich noch nie genervt, weil ich ihre Not besser verstehe als Eure Not, die gar keine ist.

Aber ich glaube auch nicht mehr, dass Ihr euer Handwerk noch lernt. Das ist das eigentlich Fatale an all euren “Tagen der Entscheidung”. Eine Endzeitpolitik für Leute ist das, die nicht übers Wochenende hinaus denken können. Schon gar nicht in Äonen. Wie könntet ihr auch. Das ist ein alter griechischer Begriff.

Schöne Grüße,

Leo

“Sag mal, Leo, war das jetzt eine Predigt?”

“Naja, Schätzchen, irgendwie schon. Glaub ich zumindest. Sieht ein bisschen so aus. Kann ich noch so ein leckeres …”

“Aber nur eins.”

“Aber nachher darf ich noch eins, oder?”

“So machst du das also.”

“Was mache ich so?”

“Du bis unverbesserlich, Leo.”

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar