Was glauben Muslime? Die Frage ist zu pauschal. Es gibt im Islam viele Strömungen. Im Bahnhofcafé traf ich Iman Said Ahmed Arif von der Ahmadiyya-Gemeinde. Sie wollen in Gohlis eine kleine Moschee bauen. Im Gespräch ging es um das Bild des Islam in der Öffentlichkeit, die Deutung des Koran und die Struktur der Ahmadiyya. Mit dabei seine Frau. Auch sie sprach von ihrem Glauben, ihrem Selbstverständnis als Muslimin und warum sie das Kopftuch trägt.
5. März, 10 Uhr; Bahnhofsbuchhandlung. Pünktlich kommt Imam Said Ahmed Arif die Treppe zum Café hinauf. Mit dabei ist seine Frau. Ich stehe auf und begrüße beide. Ihn mit Handschlag, sie mit leichtem Kopfnicken. Hätte ich auch ihr die Hand geben sollen? Später frage ich sie. Zuerst bestellen wir die Getränke. Dann geht das Interview los.
Wie ist der aktuelle Stand beim geplanten Moscheebau in Gohlis?
Imam: Der aktuelle Stand ist, dass das Widerspruchsverfahren läuft. Dadurch verzögert sich die Grundsteinlegung. Damit befasst sich jetzt gerade das Gericht. Der Entwurf für den Architektenwettbewerb ist eingereicht. Ansonsten wird sich da aber nichts tun, bis der Widerspruch ausgeräumt ist. Grundsteinlegung wird also eher nicht im Sommer sein.
Bislang sind Sie in einer Wohnung in der Eisenbahnstraße. Dort war ich bei einem Freitagsgebet zu Gast. In Ihrer Ansprache hatten Sie sich mit dem Propheten [Mohammed] befasst.
Imam: Ja, es ist immer wieder wichtig, sich mit ihm als Vorbild zu befassen.
Auffallend war der starke Kontrast zwischen Ihren sehr positiven Worten und der öffentlichen Wahrnehmung seiner Person.
Imam: Der Kontrast ergibt sich aus den Untaten von Menschen, die das im Namen des Islam tun. Ansonsten würde es diesen Kontrast nicht geben. Es sind die Untaten der Muslime, die dazu führen, dass dieser Kontrast überhaupt da ist. Gräueltaten, Anschläge und politischen Ziele werden im Namen der Religion ausgeübt. Das führt dazu, dass die Religion an sich in ein schiefes Licht gerückt wird. Dieses Bild hat man dann allgemein in der Gesellschaft. Und wenn man dann etwas von der Lehre hört, ist man überrascht und fragt sich: Wie ist denn das möglich? Die Lehre ist friedlich, aber die Auslegung durch die sogenannten Muslime ist ganz anders. Dadurch erkläre ich mir den Kontrast. Unser Bild vom Islam stimmt einfach nicht.
Als Theologe ist mir bekannt, dass die Bibel wie auch der Koran Stellen enthält, die scheinbar eindeutig zu Gewalt aufrufen, ja in denen sogar Gott selbst Gewalt befiehlt. Wie gehen Sie mit entsprechenden Stellen im Koran um?
Imam: Das ist eigentlich sehr einfach. Meistens reicht es aus, einen Vers davor oder danach zu lesen und schon öffnet sich die gesamte Thematik in neuem Licht. Wichtig ist aber vor allem, den Koran nicht als Nachschlagewerk zu betrachten. Man muss diese Themen im Gesamtkontext sehen. Und dann ist die Sache sehr, sehr klar. Es geht um die Erlaubnis zur Verteidigung, es geht um Kriegszustände. Stattdessen werden die Verse häufig aus dem Gesamtkontext gerissen, und das machen Terroristen und Fanatiker genauso wie Islamkritiker.
Auf diese Weise bestätigen dann Islamkritiker und Fanatiker sich gegenseitig. Ich denke nicht, dass das die richtige Vorgehensweise ist, diese hervorzuheben. Natürlich ist das in erster Linie die Verantwortung der Muslime selbst und der muslimischen Theologen den Fanatikern die Deutungshoheit zu nehmen. Aber auch Nichtmuslime können da entgegenwirken, indem sie nicht einfach die Position von Fanatikern bestätigen.
Was sind aus Ihrer Perspektive die zentralen Aussagen des Koran?
Imam: Die zentrale Botschaft ist, dass der Mensch zu Gott geführt wird. Das ist die zentrale Botschaft jeder Religion. Der Mensch wird zu seinem Schöpfer geführt. Zwei Wege stellt der Islam dazu vor: es geht erstens darum, die Rechte und Pflichten gegenüber Allah zu erfüllen, das heißt, ihm zu dienen. Zweitens geht es darum, die Rechte und Pflichten gegenüber dem Mitmenschen zu erfüllen. Und diese zwei Wege definieren im Arabischen einen Menschen. Mensch heißt arabisch „insān“.
Das ist ein zusammengesetztes Wort, das bedeutet: zwei Lieben. Und zwar eine Liebe zu Gott und eine Liebe zu den Menschen. Genau das lehrt der Islam. Dass wir die Rechte und Pflichten gegenüber Allah erfüllen und dabei auch die Rechte und Pflichten gegenüber den Mitmenschen erfüllen. Dadurch kommen wir dem Schöpfer wieder näher. Und das ist eigentlich die Hauptbotschaft des Islam.
Die andere zentrale Lehre ist: Es geht nicht darum, eigene Rechte zu erkämpfen und durchzusetzen, sondern es geht immer um die Rechte anderer. Ich denke, es kann zu einem sehr guten Miteinander führen, wenn wir nicht auf die eigenen Rechte blicken, sondern uns für die Rechte anderer einsetzen. Wenn jeder die Rechte anderer erfüllt, dann führt das auch dazu, dass meine eigenen Rechte berücksichtigt werden – aber in passiver Weise.
Wo finden sich diese Rechte und Pflichten?
Imam: Zum einen im Koran. Sodann in der Tradition. Wichtig ist aber auch die Praxis. Was hat der Prophet gesagt? Was hat er getan? Hat er etwas getan, was nachgeahmt wurde? Das sieht man an unseren Gebeten. Diese Gebete sind uns durch seine Praxis bekannt. Für uns ist die Quelle des Islam in erster Linie der Koran. In zweiter Linie die Praxis des Propheten. Und in dritter Linie sind es die Überlieferungen. Alles, was im Widerspruch zum Koran steht, wird entweder interpretiert, so dass es nicht im Widerspruch steht oder es wird nicht als Quelle akzeptiert. Der Koran ist der Maßstab.
Sie haben jetzt nicht den Begriff Scharia genannt.
Imam: Das ist die Scharia: der Koran, die Praxis, die Überlieferungen. Scharia bedeutet, der Weg zur Wasserquelle. Das ist der Weg zur Erleuchtung. Das ist die Lehre selbst. Das ist viel umfassender als das, worauf die Scharia beschränkt wird, also dass es nur die Strafgesetze seien.
Der Europäische Gerichtshof hatte 2003 erklärt, die Scharia sei nicht vereinbar mit den Menschenrechten. Wie interpretieren Sie Stellen, die klare Strafen vorsehen, welche nicht mit unserer Verfassung vereinbar sind?
Imam: Das wichtigste, was die Scharia lehrt, ist: die Gesetze des Landes, da wo man lebt, zu befolgen. [Koran 4:60] Die Scharia steht für mich an erster Stelle. Aber diese Scharia lehrt mich klar und deutlich, die Gesetze des Landes zu befolgen und das tue ich auch. Und das ist mir auch aus religiösen Gründen sehr wichtig.
Was die Strafgesetze anbelangt: es gab damals, als der Prophet lebte, verschiedene Gruppen. Und die kamen zu ihm. Und er fragte, möchtest Du die Sache nach dem jüdischen, nach dem christlichen, dem islamischen Gesetz oder durch ein Schiedsgericht beurteilt haben. Denn im Koran steht, dass das Gesetz niemals Nichtmuslimen aufgezwungen werden kann [2:256 “Es gibt kein Zwang im Glauben“].
Diese Strafgesetze sind wie andere weltliche Gesetzte die die Mehrheit aus Überzeugung für sich wählt. Ich sehe das daher so: man hat Bundesgesetze und man hat Landesgesetze. Also eine gemeinsame Basis der Gerechtigkeit und dann aber auch Flexibilität gemäß den eigenen Überzeugungen der Menschen in verschiedenen Regionen. Damit hat man einen gewissen Rahmen, in dem Menschen ihren Überzeugungen nachgehen können.
Über die Rolle der Frau im Islam geht es im Teil 2 des Interviews morgen an dieser Stelle.
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