Keinen Platz finden die Deutschen so schön wie den Kölner Dom. Das zumindest wusste die ZDF-Show „Unsere Besten – Lieblingsorte der Deutschen“ zu ermitteln. Leider kann ich dies für mich nicht ganz bestätigen, denn lieber noch als im Kölner Dom halte ich mich in Bibliotheken auf. Umgeben von Tausenden von Möglichkeiten, von Tausenden Leben zwischen zwei Buchdeckeln, die einen auf eine kleine gemeinsame Wegstrecke einladen, erscheint mir der Mitmensch hier immer etwas friedlicher, weniger zahlreich, weniger zur Geschwätzigkeit neigend. Letzteres mag möglicherweise auch für den Kölner Dom gelten, zur Leipziger Stadtbibliothek aber komme ich mit der Straßenbahn. 0:1.
Zwischen der Bibliothek und mir spinnt sich übrigens ein unsichtbares symbiotisches Band. Sie hat nämlich viel von mir profitiert: Mit den Bußgeldern, die ich dort im Laufe meines alphabetisierten Lebens für die verspätete Rückgabe der Bücher zu entrichten hatte, habe ich Generationen von Bibliotheksangestellten einen Vollzeitarbeitsplatz gesichert.
Leider geht man dort leichtfertig damit um, denn mittlerweile werden meine Gelder offensichtlich vielseitiger genutzt, zum Beispiel für die technische Aufrüstung der Bücherei: Auszuleihende oder zurückzugebende Medien soll man nun nicht mehr ungestüm fordernd dem Bibliotheksmitarbeiter auf den Tisch knallen, sondern über geheimnisvoll piepsende, moderne Gerätschaften ziehen bzw. in deren Schlund einfahren lassen. Vor allem das Medienrücknahmegerät besitzt einen besonderen Reiz, weil etwa jedes zweite Objekt, das man aufs Band ins Nirwana zu schicken trachtet, immer widerborstig herauszufahren pflegt, Nachbesserung verlangend. Beim Leergutautomaten im Supermarkt ist das einfacher. Da hat man die eherne Kundenregel längst verinnerlicht: „Flaschenboden zuerst!“ Beim Buch aber herrschen beim SB-Novizen diesbezüglich keinerlei Anhaltspunkte.
Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass man vom Bücherautomaten kein Geld zurückerhält. So weit ist die Stadtbibliothek noch nicht, dass sie wirklich bereit wäre für die moderne Welt – und jedes retournierte Buch mit einem kleinen Obolus vergüten würde. Das Bücherpfand wäre der Durchbruch. Auch für die pünktliche Rückgabe.
Leider braucht es noch etwas Geduld bis dahin
Geduldig stand ich deshalb kürzlich erneut vor einem der wenigen verbleibenden Tresenkräfte der Einrichtung, um meine Bußgebühren zu entrichten. Der Mann saß seltsam mutlos und erschöpft hinter seinem Tisch, seitens seiner Mimik eindrucksvoll gar nichts vermittelnd. Ich fragte ihn leicht verunsichert, ob er denn bereit sei für mich, worauf er erwiderte, es käme darauf an, was ich wolle. Auf mein Rätsel, was eine Benutzerin der Bibliothek, die mit einem gezückten Portemonnaie vor ihm stehe, wohl im Sinn habe könne, vermochte er nicht mehr einzugehen, denn hinter uns hatte sich an einer der elektronischen Ausleihstationen ein lautstarkes Handgemenge entsponnen. Ein älterer Herr wehrte sich gerade mit Händen und Füßen gegen eine Mitarbeiterin, die ihn an dieses Gerät geführt hatte, anstatt ihm die Bücher auf herkömmlichen Wege auszuhändigen.
Nach ersten erwartbaren Schwierigkeiten mit dem Procedere hatte der wirklich betagt aussehende Herr vor einigen Minuten die Umstehenden lautstark wissen lassen, was er von diesem neumodischen Selbstbedienungs-Mist halte und verzweifelt nach einer Unterstützung gerufen. Die herbeigeeilte junge Angestellte wirkte zwar sehr kompetent im Umgang mit dem Gerät, zeigte sich aber leider etwas ungelenk auf der zwischenmenschlichen Ebene. Kurzum: Es war eine entwürdigende Situation, die vor allem zeigte, dass sich die Menschheit in ihrem einseitigen Optimierungswahn nicht nur peinlich-hilflos verzettelt, sondern gegebenenfalls auch über digital defizitär ausgebildete Leichen geht, während sie sehenden Auges die gesamte Dienstleistungsbranche in den Ruin reitet.
Dieser Selbstbedienungswahn, der uns in den letzten Jahren branchenübergreifend begegnet, ist doch geradezu absurd
Unglaublich, wie viel Energie darauf verwendet wird, Konstruktionen zu erfinden, wie man eigenhändig seine Brötchen im Supermarkt oder in SB-Bäckereien aus der Auslage operieren soll: Mit Karussellen und Greifarmen wird da gearbeitet, mit Einmal-Handschuhen, mit denen man dann gynäkologengleich seine Backwaren im Rahmen einer Zangengeburt ans Licht der Welt holen muss, wobei man gewöhnlich unter Komplettaufgabe der Menschenwürde auf ganzer Strecke scheitert, um schließlich hochroten Kopfes in quasi-krimineller Absicht einfach die Klappe zu öffnen und die Brötchen schamhaft-rasch herauszunehmen.
Handschuhe gibt es zwar noch nicht in den SB-Terminals mit den oft unsäglich versifften Tasten der Geldinstitute, aber das face-to-face-Scherzen mit dem Bankangestellten ist auch hier längst vorbei, ansonsten – Achtung! – Schaltergebühr!
Der Machs-dir-selbst-Reigen setzt sich unendlich fort
Wer Möbel aus einem schwedischen Möbelhaus mitnimmt, um sie zuhause selbstständig aufzubauen, der wird sich wohl nicht zu schön dafür sein, diese auch gleich eigenhändig an der Kasse zu scannen, denkt sich der findig-innovative Unternehmer schlau und schon ist wieder ein ganz toller Trend geboren.
Überhaupt wird allerorten neuerdings gern und viel gescannt, geleuchtet und gepiept. Die attraktiven, modernen orthopädischen Krankheitsbilder, die innovativen Alltagsbewegungen wie Langzeit-Scrollen, Wischen-über-Touchscreens und In-Tastaturen-Hacken geschuldet sind, werden wohl mit dem Über-den-Scanner-Ziehen zusätzlich befeuert werden. In Supermärkten habe ich manchmal fast Angst um Kunden, die mit einem gestreiften T-Shirt zu nah an der Kasse stehen. In einer Supermarktschlange den Scann-Prozess abwartend, kann man auch unschwer erkennen, dass der Do-it-yourself-Trend vielleicht noch nicht ganz IN den Köpfen der Menschen angekommen ist, auf jeden Fall aber DARAUF.
Leider aber sehen Leute, die beim Friseur selber föhnen, oft auch danach aus.
Was hat es nun eigentlich mit diesem Trend samt seiner unangenehmen Folgen auf sich? Was sollen wir denn noch alles alleine machen? Und wo, um Himmels Willen, wird dies enden? Heißt es eines Tages vielleicht im Hospital: „Gut, den Blinddarm nehmen wir Ihnen noch raus, aber – ehm, also, ja … – als Kassenpatient nähen Sie dann aber selber“? Oder wird einem während des Vollzugs bald herzlos um die Ohren geknallt werden: „Also schön Schatz, beim Vorspiel bin ich noch dabei, aber ich zeige dir dann, wie du allein erfolgreich zum Schluss gelangst!“?
Es muss deshalb zu fragen erlaubt sein, wem die SB-Welle zugute kommt
Wem es nützt, dass Menschen mit Dienstleistungsberufen mittlerweile als Service-Proletariat bezeichnet werden und wer ein gezieltes Interesse daran hat, dass ein Großteil der Menschen am Abend, nach all den selbst eingetüteten Semmeln, dem Selbsteintippen von 2-km-langen IBAN-Nummern, den selbst geföhnten Herrenwinkern und den selbst gescannten Teelichtern selbst nicht mehr wissen, wer sie eigentlich sind und schlichtweg zu geschafft sind für alles andere. Auch für Widerstand.
Möglicherweise wird unsere Gesellschaft schleichend von der Montessori- Pädagogik unterwandert, die durch das Credo ihrer Namensgeberin Maria Montessori „Hilf mir, es selbst zu tun!“ populär wurde. Vielleicht hat aber auch nur die Entspannungs- und Wellnessbranche zwei Hände dabei im Spiel. Wer weiß.
Offen bleibt dabei freilich noch immer, warum die Deutschen den Kölner Dom zu ihrem beliebtesten Ort gewählt haben.
Vielleicht, weil sie ihn nicht selber bauen mussten.
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