Schreibender Weltenbummler, vielreisender Motorradfreak, weltoffener Abenteurer - der Leipziger Autor Jens Fuge lebt seine Träume wie kaum ein anderer. Was fehlt so einem noch, wovon träumt Jemand wie er? Es war an einem kalten Juli-Tag im Zentrum von Murmansk. Wir waren am Tag zuvor mit den Motorrädern in der größten Stadt in der Arktis angekommen und nutzten den freien Tag zur Erkundung der russischen Hafenstadt.
An einem Denkmal des 2. Weltkrieges versuchten wir, die Inschrift zu entziffern. Murmansk hatte unter massiven deutschen Bombenangriffen zu leiden, nur Stalingrad wurde noch stärker bombardiert. Eingenommen wurde die Stadt jedoch nie. Plötzlich sprach uns ein älterer Herr in klarem Englisch an und bedankte sich bei uns. Wofür, wollten wir erstaunt wissen, und die Antwort verwirrte uns noch mehr: Dafür, dass wir uns das Denkmal anschauten und uns offensichtlich mit dessen Aussage auseinandersetzten. Das, so erklärte uns der Mann, sei doch der Sinn eines solchen Denkmals: dass man sich, egal, auf welcher Seite man stehe, mit dessen Aussage und Historie auseinandersetze. Mit seinem Sinn. Und dass wir als Deutsche nach Murmansk kommen und uns dort völlig ungezwungen bewegen könnten, sei doch zur Zeit der Entstehung dieses Denkmals völlig undenkbar gewesen.
Es ist diese Toleranz, die mich auf Reisen immer wieder beeindruckt. Diese Toleranz, die ich in meiner Heimat so oft vermisse. Was haben die Russen wegen der Deutschen alles erleiden müssen! Umgekehrt übrigens auch, das ist mir bewusst, aber das sprengt hier den Rahmen. Und nun werden wir – seit vielen Jahren übrigens schon – mit offenen Armen dort empfangen. Ich meine von der Bevölkerung und nicht vom Ex-KGB-Mann aus Dresden, der jetzt in Moskau regiert. Es ist natürlich kompliziert mit der Toleranz, aber dafür reicht der Platz hier leider nicht.
Großmut ist der kleine Bruder der Toleranz. Es heißt ja nicht umsonst, dass es gerade die Ärmsten sind, die am liebsten geben. Schließlich erleben sie es am eigenen Leib, wie schwer das Leben ist, und wissen, wie wertvoll Hilfe sein kann. Also geben sie, wo sie können, und erwarten selber nichts dafür. Ich bin als im “realen Sozialismus”, im zerbröselnden und widerborstigen Stadtteil Lindenau Großgewordener beileibe kein Christ, aber diese Stelle in der Bibel gefällt mir wirklich gut: Geben ist seliger denn nehmen. Ihr Abendländischen Erretter, wisst Ihr noch, was das bedeutet?
Ich durfte es überall in der Welt kennenlernen. Von Christen, Moslems und Ungläubigen.
In Syrien, als der Bürgerkrieg noch nicht begonnen hatte, und wir trotz Motorradfahrverbotes (ja, das gab es wirklich!) die ersten Ausländer waren, die mit ihren Harleys durch das Land fuhren, wurden wir zum traditionellen Essen von Einheimischen eingeladen, denen man ansehen konnte, dass sie nicht viel besaßen. Sie waren neugierig auf die ungewöhnlichen Fremden, die da vor ihrer Haustür standen, und luden sie ein. In Kuba, wo der Normalsterbliche mit einem Monatsverdienst von 15 Euro klarkommen muss und wo es seit der Revolution 1959 noch immer Lebensmittelkarten gibt, begegnen einem die Menschen voller Freude und Wissensdurst, und die Einladung zum selbst gebrannten Rum und zum familiären Mahl lassen oft nicht lange auf sich warten. “Mi casa es tu casa”, “Mein Haus ist dein Haus”, ist nicht nur eine gebräuchliche Redewendung, sondern ernstgemeinte Respektsbezeugung. Und auch die so oft als oberflächlich gescholtenen US-Amerikaner meinen es durchaus ernst – in wie vielen Häusern durften wir die Gastfreundschaft der Amis genießen, obwohl wir uns erst kurz vorher kennengelernt hatten! Von San Francisco bis Boston, von Washington DC bis Seattle reichen die Erfahrungen – und niemals, bis heute, gab es zu unserem Leidwesen einen Gegenbesuch, also auch keine Erwartungshaltung.
All das sind natürlich nur kleine Beispiele. Private Gesten, keine politischen Statements.
Die sehen oft anders aus. Natürlich gibt es den Zaun zwischen den USA und Mexiko, der verhindern soll, dass noch mehr Illegale ins gelobte Land kommen. Es ist wahr, dass Kuba seine Ärzte in andere lateinamerikanische Länder schickt, aber nicht aus humanitären Gründen, sondern um Geld zu verdienen. Mehrere tausend kubanische Ärzte arbeiten in Brasilien, Venezuela und anderen Ländern, und der Staat kassiert dafür Milliarden. Und über Syrien müssen wir gar nicht erst reden. Selbst zu Friedens-Zeiten herrschte ein Polizei- und Spitzelsystem über die Menschen dort.
Aber ist es nicht genau dieser Widerspruch, der Mitgefühl und Toleranz hervorbringt? Beklagen wir nicht heute den Mangel an Zusammenhalt, den wir geborene Ossis in DDR-Zeiten kennengelernt haben? Die Gründe dafür, der gemeinsame Groll gegen Bevormundung und Lügengebilde, Mangelwirtschaft und falsche Versprechen, sind längst beseitigt. Die Erinnerung daran ist bei vielen geblieben.
Ich wünsche mir, dass – nicht nur montags auf der Straße, aber vor allem dort – innegehalten und nachgedacht wird, ehe man Transparente malt und Reden hält. Ich wünsche mir, dass man die Toleranz, die man für sich selber einfordert, auch bereit ist, anderen zu gewähren. Ob nun als ungläubiger DDR-Sozialismus-Zwangsbeglückter oder bibelfester Christ, ist völlig egal. Den Unterschied zwischen Asylbetrüger und Bürgerkriegsflüchtling kann Jeder herausfinden. Dazu reicht ein wenig guter Willen. Und Mitgefühl. Und Toleranz.
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