Im Interview: ein 1987 in Moskau geborener Russe, der nach seinem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften im Jahr 2011 im Alter von 24 Jahren gemeinsam mit seiner Frau nach Deutschland kommt. Eigentlich will er aber gar nicht nach Deutschland. - Genauso unterschiedlich, wie "wir Deutschen" sind, genauso unterschiedlich sind auch "die Flüchtlinge", die immer nur als eine Masse gesehen werden. Ein Blick in das Leben einzelner Asylsuchender, in ihre Erlebnisse, ihre Ängste, ihre Sorgen.
Beschreibe uns deinen normalen Tag.
Normalerweise stehe ich um sechs oder um sieben auf. Dann trinke ich Tee und gehe nach meinem Frühstück zur Schule. Ich bin drei Tage in Borna und zwei Tage in Regis in der Schule. Danach habe ich viel Zeit und weiß nicht, was ich machen soll. Ich komme nach Hause und lerne ein bisschen Deutsch, lese die Nachrichten, um zu wissen, was in der Welt passiert. Das ist mein Tag.
Die Probleme mit der Schule sind, dass ich zwei Universitätsabschlüsse habe. Ich denke, ich kann zur Ausländerbehörde gehen und erklären, dass die Schule für mich nur Zeitverschwendung ist und ich zu Hause mehr Deutsch lernen kann.
Wir leben an einem Ort mit Menschen aus verschiedenen Ländern und mit unterschiedlichen Denkweisen. Ich denke immer nach, wenn ich im Bett liege: Wer bin ich und was sollte ich machen? Leute reden über mich und sie reden hinter meinem Rücken über mich. In Moskau hatte ich nicht solche Probleme. Ich hatte meine Freunde, mein Netzwerk und wenn ich ein Problem hatte, konnte ich zu ihnen gehen. Und selbst meine Freunde in Moskau kann ich nicht kontaktieren. Ich weiß nicht, was in Moskau passiert. Das ist das System, in dem ich jetzt bin, das ist mein Leben in Deutschland.
Warum habt ihr Russland verlassen?
Wegen der Probleme, die ich hatte. Soll ich das richtige Problem erzählen, wollt ihr das hören? Das Hauptproblem: Ich habe studiert, um zu arbeiten. Wir leben nicht, um Geld zu verdienen. Wir verdienen Geld um weiterzuleben. Das ist das Prinzip.
Wenn du studierst und deine Zukunftspläne hast, ändern sich manchmal die Dinge. Du bist überrannt und fragst dich, warum dir das passieren musste. Das Hauptproblem ist, dass einige Leute wollten, dass ich für sie arbeite. Putin ist das dritte mal Präsident geworden und nun ist er Präsident für sechs Jahre. Das ist nicht normal. Das zeigt, dass die politische Stabilität fehlt. Wenn die politische Stabilität fehlt, dann fehlt sie auch in der Wirtschaft.
Und es gibt Leute, die diesen Missstand ausnutzen. Leute können tun und lassen, was sie wollen. Sie geben Geld und schaffen so Probleme aus der Welt. Und wenn solche Leute zu dir kommen und sagen, wir wollen, dass du für uns arbeitest und du fragst warum, dann sagen sie, wir haben viele Leute in der Wirtschaft, in Regierungsstrukturen. »Schwarzmänner«, »Schattenwirtschaft«, »Schattensystem«. Sie sagten mir: »Du wirst der weiße Mann sein und wir die Schwarzen, wir geben dir Geld, weil du intelligent bist, du kannst mehrere Sprachen, du kannst gut beeinflussen und überzeugen. Wir ziehen die Fäden, du machst, was wir dir sagen. Wir helfen dir, wir wissen, dass du dein Zweitstudium beginnen willst – wir finanzieren dir das.« Sie nannten mir Wirtschaftler und Regierungsabgeordnete, die für sie arbeiten würden. »Wir bezahlen sie. Und du wirst einer von ihnen sein.«
Ich lehnte ab. Ich hatte die Wahl und ich wählte. Wegen diesem Problem verlor meine Frau ihr erstes Kind, deshalb will ich keine weiteren Probleme. Ich sagte, ich brauche einige Zeit [um mich zu entscheiden], sodass wir Zeit gewinnen konnten. Und so veränderte sich unser Leben und wir verließen Moskau. Ich vermisse Moskau.
Wolltest du nach Deutschland kommen?
Nein, ich hatte nicht vor, nach Deutschland zu kommen. Ich hatte nicht vor, zu fliehen, ich plante meine Zukunft. Ich wollte nur das Leben meiner Familie und von mir retten und so entschied ich mich, Moskau zu verlassen. Ich mache mir nichts aus Deutschland.
In Chemnitz fragten sie mich nach Dokumenten. Aber ich habe sie nicht, ich dachte damals nicht daran, sie mitzunehmen. Was hätte ich denn zu meinen Eltern sagen sollen? Ich habe die Dokumente nicht, weil ich nicht herkommen wollte. Ich wollte nicht um Asyl bitten und Flüchtling sein. Das ist meine Geschichte.
Und wie ist die Beziehung zu den anderen hier im Heim lebenden Menschen?
Ich frage sie nicht, woher sie kommen und was ihr Name ist, ich glaube nicht, dass das normal ist, aber ich schere mich nicht darum. Ich schere mich nur um meine eigene Situation. Wenn ich nicht solche Fragen stelle bedeutet das, dass ich ihnen allen gleich begegne. Ich habe hier keine Freunde. Ein Freund ist für mich jemand, der erreichbar ist. Du zeigst mir deine Freunde und ich sage dir, was für ein Typ Mensch du bist.
Wie lange warst du in Chemnitz?
2 Monate oder 1 ½, ich erinnere mich nicht mehr genau.
Wie war dein Gefühl dort – Hattest du Angst oder warst du erschrocken?
Es gab in Chemnitz viele Prügeleien und der Grund war Alkohol. Wenn du nach Chemnitz gehst, siehst du, dass alles geschlossen ist, es gibt ein zentrales Eingangstor, was der einzige Eingang ist. Und es war kein Problem, Alkohol mit reinzubringen.
Sie haben sich geprügelt, sie haben sich selbst geschnitten und dort waren viele Familien. Wir kommen her, um unser Leben zu retten. Wir kommen nicht zum Prügeln. Wenn ich kämpfen wöllte, würde ich zurück nach Moskau gehen und meine Stärke zeigen und meine Kampffähigkeiten. Sie [an der Rezeption] sagte ja, wir verstehen dich, aber nun geh weg, wir müssen arbeiten. Nicht jeder aus Iran oder Pakistan ist ein echter Christ. Leute kamen zu mir und sagten: »Psst, ich bin kein richtiger Christ, ich sage das nur, um hier bleiben zu können.«
Ich sagte: »Ihr spielt mit eurem Glauben?« Jeden Tag bin ich immer wieder geschockt. Viele Leute lügen, und mir glauben sie dann nicht, weil sie denken, ich lüge auch. Aber warum sollte ich lügen? Das ist nicht gut. Ich bin nicht hier wegen Sozialhilfe oder Geld, in Moskau hatte ich für meine 24 Jahre genug Geld. Ich arbeitete in Moskau und verdiente 2000 Euro im Monat. Ich erzählte ihnen das in Chemnitz auch. Sie fragten mich viele Fragen, ich verstand nicht, warum. Jetzt verstehe ich, warum. Sie müssen wissen, ob ich lüge, oder die Wahrheit erzähle oder ob ich nur das Geld will. Später traf ich solche Leute, sie waren wirklich froh, wenn sie eine Banane oder einen Apfel bekamen. Ich war geschockt – mit wem lebe ich hier. Aber das ist nun mal die Realität.
Vielleicht fragt ihr euch, warum erzählt er so viel. Es ist so: Seit ich in Deutschland bin, habe ich mit keinem darüber gesprochen. Ich hab all das in meinem Herzen und denke weiter und weiter und habe niemanden zum Reden. Das ist das Problem. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich jetzt so offen darüber spreche.
Wo siehst du derzeit dein größtes Problem?
Ich fühle mich hier auf eine Art diskriminiert. Hier glauben sie mir nicht, sie glauben uns nicht und ich bin einer von ihnen. Die Beamten der Ausländerbehörde geben uns Gutscheine anstatt von Geld. Wenn du einkaufen gehst, schauen alle Leute und denken vielleicht, dass wir Kriminelle sind, denen man kein normales Geld geben kann. Natürlich sagen sie nichts, aber es ist schon genug, ihre Blicke zu spüren. Aber das passiert immer. Ich bin kein Krimineller. Das ist eine Art von Diskriminierung. Es gibt auch viele Deutsche, die Sozialhilfe beziehen und auch nur Tabak und Alkohol kaufen, weil sie deprimiert und depressiv sind.
Wir sind alle Menschen. Ich verstehe nicht, warum Leute hier so unfreundlich und unhöflich sind. Und manchmal denke ich, ich beginne, depressiv zu werden. Man denkt über Sachen nach, über die man eigentlich (noch)? nicht nachdenken sollte. Ich bin 24 Jahre alt und sollte eigentlich in die Zukunft blicken und über den Beginn meiner Karriere nachdenken. Aber nun bin ich in der Situation, in der mir Leute Dinge vorschreiben wollen.
Welches der Sondergesetze belastet dich am meisten?
Das Schlimmste ist, dass ich nicht arbeiten darf. Ich sehe viele Leute, die Geld bekommen und darüber froh sind. Aber ich kann das nicht, ich möchte kein Geld für nichts vom Staat. Es ist nicht gut, ich möchte arbeiten.
Wenn man mich in ein anderes Land schicken würde, würde ich es verstehen. Es ist euer Land, aber ich bin nicht hier, um das Land zu zerstören. Ich habe etwas im Kopf und ihr könnt ebenfalls davon profitieren. Ich kann ebenso meinen Tribut zur Gesellschaft beitragen, aber sie lassen mich nicht. Das ist das Gesetz und du darfst das Gesetz nicht brechen. Das ist das Schlimmste.
Was denkst du über deine Zukunft?
In meiner Situation? Ich hoffe, alles wird gut. Ich lerne Deutsch, weil ich denke, es ist eine gute Voraussetzung. Warum nicht? Ich habe genug Zeit. Ich lese zur Zeit viele Bücher. Und ich hoffe, wenn ich Deutsch gelernt habe und sie mir erlauben, hier zu bleiben, könnte ich meinen eigenen Beitrag leisten, um meine Dankbarkeit zu zeigen.
Was möchtest du noch loswerden?
Ich will zu meinen Anfangsworten zurückkehren und meine Dankbarkeit gegenüber den Deutschen zeigen, wegen dem, was sie getan haben und für mich tun. Sie sind auch nur Menschen und sie haben wie ich fünf Finger, aber die Hände sind verschieden. Ich lebe hier, ich bin nicht obdachlos, sie geben mir ein Dach über dem Kopf, sie geben mir Essen, sie geben mir alles. Deshalb bin ich dankbar.
Information zum Interview: Dieses hier in leicht gekürzter Form wiedergegebene Interview wurde im Mai 2012 mit einem Asylsuchenden, der in einer Gemeinschaftsunterkunft im Landkreis Leipzig untergebracht ist, auf Deutsch von ehrenamtlichen Mitarbeitern des Bon Courage e.V. geführt. Trotz der Angst der Asylsuchenden vor späteren Konsequenzen waren diese bereit, die Gespräche zu führen und stimmten einer anonymisierten Veröffentlichung zu. An der Lebenssituation der Flüchtlinge hat sich seitdem nicht viel geändert. Das Thema ist genauso aktuell wie vor zwei Jahren. Das vollständige Interview mit dieser und vielen weiteren Asylsuchenden finden Sie in der Broschüre “Von außen sieht es nicht so schlimm aus …” des Bornaer Bon Courage e.V.
Hier ist die Broschüre erhältlich: www.boncourage.de/index.php5?go=856
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