Mit diesem Satz pflegte der Fahrer der Buslinie in Zürich, wo ich für einige Zeit lebte, tagtäglich seine Fahrgäste zu verabschieden, wenn die Endstelle der Linie 46 erreicht war. Die Aussteigenden wiederum artikulierten dann wiederum mindestens ein artiges, aber deutliches "Ade!" in Richtung des Fahrers, wenn sie die Tür beim Aussteigen passierten.
Man kann ein solches Verhalten leicht für spießig, diskret verlogen oder übertrieben höflich halten, bei mir löste es jedoch stets den nicht überraschenden Schlüsselreiz aus: Ich fühlte mich umgehend (noch) besser.
Der Schweizer hat es in der Tat mit der Höflichkeit im Alltag, die ihm so heilig ist wie seine Berge, Wilhelm Tell und die UBS zusammen und die er als Absicherung für sein Sein benötigt.
Selbst die paar sprichwörtlichen blutleeren Exemplare, denen böse Zungen gerne eine gewisse Langsam- und Temperamentlosigkeit vorwerfen, werden außerordentlich lebhaft, wenn irgendein Banause die zwar ungeschriebenen, aber ehernen Höflichkeitsregeln, auf die sich die helvetischen Gesellschaft verständigt hat, zu brechen droht.
Da kann einen die wohlfrisierte Oma, die sich zum Einsteigen in den Bus gewissenhaft eingereiht hat, schon mal sehr unsanft an der Schulter packen, wenn man gedankenverloren an ihr vorbeizuschreiten droht beim Einsteigen: “Sie da, mir sin da in der Schwiiz!”
Auch muss man die Blicke aushalten können, die einen durchbohren, wenn man als Anfänger im öffentlichen Schweizer Nahverkehr die Tasche neben sich auf den freien Sitz in der auch ansonst fast menschenleeren Tram gestellt hat. So was geht nicht, das macht man nicht, darauf steht Ächtung, Entlarvung als Ausländer und/oder Autist oder in schweren Fällen Ausschaffung, was so viel heißt wie “des Landes verwiesen” zu werden.
Trotzdem bin ich den Schweizern für vieles dankbar. Selbst für deren zuweilen brachiale Verteidigung ihrer Benimmse.
Kann man doch immerhin daraus lernen, dass sich genau an diesem Verhalten am deutlichsten zeigt, dass man Höflichkeit nicht mit Freundlichkeit verwechseln darf. Beide Begriffe sind keinesfalls identisch. Strenggenommen ist Höflichkeit sogar die verlogenste Form der Freundlichkeit, die sich vor allem durch echte Wohlgesinntheit für den Mitmenschen, aber auch Wohlgesinntheit für sich selbst zeigt.
Ein freundlicher Zeitgenosse wirkt auf uns doch angenehm, weil er Geduld zeigt mit uns, der sich nicht verschlossen gegenüber den Mitbewerbern in der Olympiade des Lebens zeigt und zumindest versucht, deren Fehler und Unzulänglichkeiten ein wenig zu verstehen. All das tut ein höflicher Mensch nicht automatisch. Der größte Misanthrop ist sehr wohl imstande, stoisch antrainiertes höflich-rücksichstvolles Verhalten an den Tag zu legen, sofern er ein halbwegs kultiviertes Exemplar der Sorte Mensch ist.
Ich möchte dennoch so weit gehen zu behaupten: Vorgetäuschte Freundlichkeit oder Höflichkeit sind besser als nichts. Sie stellen immerhin ein Medikament dar, das vielerorts wirkt. Und dann kommt ja wiederum der alte Satz ins Spiel vom Zweck, der die Mittel heiligt. Auch wenn man mir natürlich sofort entgegenhalten könnte, dass Kannibalismus dadurch nicht besser wird, nur weil man mit Messer und Gabel isst.
Trotzdem: Höflichkeit erklärt sich als ein Wert in der Gesellschaft, der diese wie Kitt zusammenhalten kann, auch über raue Zeiten und vor allem über große Unterschiede zwischen den Menschen hinweg. Das hat die Schweiz mit ihrer Multinationalität und Vielsprachigkeit in ihrer Geschichte bitter nötig gehabt und siehe: Es funktioniert auf gewisse Weise noch heute prächtig.
Warum nun in Deutschland ein gänzlich anderer Ton herrscht, ist sicher eine Vorlage für mindestens ein Dutzend Dissertationen in Kulturwissenschaft, um einmal die Standardausrede für unzureichende Gedankengänge aller geisteswissenschaftlichen Faulpelze zu benutzen.
Dass aber der Höflichkeit als Bestandteil eines (noch vorhandenen?) Wertesystems in Deutschland keinerlei Bedeutung mehr zugemessen wird, ward mir nie so deutlich vor Augen geführt als in der ersten Zeit nach meiner Rückkehr nach Leipzig.
Das fing mit dem Ton an, mit dem der Busfahrer die Passagiere von den sich nicht schließenden Türen fortjagte, erstreckte sich über permanente Befehle des reklamierbesessenen Kunden gegenüber Verkäufern und deren missgelaunte Repliken, über deren unwirschen Zurückwerfen des Wechselgeldes ins Kassenschälchen bis hin zu der häufig vor sich hinmuffelnden Sprachlosigkeit an Schnittstellen großstädtischer, öffentlicher Kommunikation.
Der Ton, wie man sich anherrscht, wenn in der Straßenbahn nicht alles reibungslos klappt, der Geruch, den man mit seiner glutamatösen Styroporbox vom Chinesen im Zugabteil verströmt – es deutet vieles daraufhin, dass die Werbekampagne “Du bist Deutschland” grundlegend missverstanden und mit der Bedeutung “Du (allein) bist der Nabel der Welt” verwechselt worden ist. Nabelpiercing häufig inklusive. Man hat dies offensichtlich grob fehlinterpretiert in “Du bist das Nabelpiercing der Welt – An mir hänge sich der Mitmensch bitte auf – und nicht andersherum!”
Manch einen ficht das nicht an. So seien die Menschen eben, wird mir oft entgegengehalten. Ich solle mich nicht aufregen.
Ich rege mich aber gar nicht deswegen auf, sondern es regt mich vielmehr auf, wenn Menschen mit einer Routine durchs Leben gehen, dass es einem schwerfällt zu glauben, dass auch diese zum ersten Male leben. Ich machte mir also weiter Gedanken. Auch über die kulminierende Ruppigkeit im öffentlichen Raum.
Zuerst argwöhnte ich misstrauisch, es hänge eine ganze Industrie dran – am Unfreundlichsein. Diese erschlagende Missmutigkeit muss Methode haben, einen Grund. Jemand verdient vermutlich daran. Anders kann es nicht sein, dass sich etwas derart Hässliches so erfolgreich durchsetzt.
Dann fielen mir aber sofort die Schweizer wieder ein und ich entlarvte umgehend meinen Denkfehler. Wenn Unhöflichkeit Geld einbrächte, wären die beschriebenen Umgangsformen dort übler. Dann wäre die Fallhöhe in Alltagshöflichkeit zum helvetischen Nachbarn keinesfalls so hoch oder lang wie der herkömmliche Herr gemeinhin seine Körperdaten einzuschätzen pflegt.
Ich wundere mich also weiter: Warum nur schlagen auch Ordnungsamt-Angestellte oder Polizei-Beamte manchmal einen so harschen Ton im Umgang mit ihrer Kundschaft an? Schließlich sind Bösewichte deren Lebensgrundlage. Etwas mehr Sanftheit und Verständnis bitte, Herr Wachtmeister! Stürbe diese Spezies aus, müsste der gesamte Polizei-Apparat sich neu orientieren. Ihre gesamte materielle und ideelle Lebensgrundlage wäre vom Tisch. Das sollte man denen mal bewusst machen. Aber wer soll damit anfangen?
Und überhaupt: Wie kann man wieder ein bisschen Höflichkeit unter den Deutschen platzieren? Wie macht man die wieder hipp? Welchen Trick wendet man am besten an?
Kampagnen haben wohl wenig Aussicht auf Erfolg. Moral lässt sich nicht gut verticken. “Ich will’s höflich” klappt nicht als Plakat, nicht zuletzt auch deshalb, weil es eben “dort” gar nicht so höflich zugehen muss.
Damit diese Kolumne heute zwar etwas rat-, aber keineswegs hoffnungslos endet, zum Schluss etwas Versöhnliches.
Es gibt sie nämlich, die ausgleichende Gerechtigkeit im Leben! Nur eben immer anders als man denkt und eben nicht einforderbar. Als Kraftquell diene dem Leser die folgende kleine Episode, die ich mir immer wieder vergegenwärtige, wenn der Mitmensch wieder mit rohen Kräften keineswegs arglos waltet.
Neulich – beim Bestreben am Leipziger HBF dem Geldautomaten etwas Bares abzutrotzen, stellte sich ein kleingewachsener, untersetzt-teigiger Mann mit einem Kurzarmhemd hinter mich in die Warteschlange. Ein Herr mit Kernkorpulenz gewissermaßen.
Als ich kurz den Kopf wendete, um das eher lebhaft geartete Kind, das mit einem Roller gewohnt beherzt in der Bahnhofshalle kreiste – Passanten und Tauben jagend – mit einem raschen, strengen Kontrollblick zu bedenken, musste der Geldautomat frei geworden sein. Der kleine Aktentaschen-User war indes umgehend an mir vorbei zum Gerät geschritten und befand sich nahezu schon im Stadium der Geheimzahl-Eingabe. Normalerweise hätte ich ihn gewähren lassen, aber eine nicht hundertprozentig beaufsichtigte Leibesfrucht ist nicht immer eine gute Leibesfrucht. So rief ich ihm ein freundliches “Entschuldigung, ich glaube, ich war erst an der Reihe …!” in den Nacken, als er sich umdrehte und sagte: “Da kann ich doch nichts dafür, wenn Sie schlafen!” Meinen kurzen Richtigstellungsversuch, ich ginge nie vor 23 Uhr ins Bett, brach er unwirsch er ab, ich solle jetzt gefälligst den Mund halten. Als ich das Geld abhob und mit ein paar Umstehenden belustigte Blicke austauschte, schickte er mir noch ein wütendes “Sie brauchen gar nicht zu lachen!” hinterher.
Ich gebe zu: Kurz wollten böse Gedanken sich meiner bemächtigen, sogar der peinliche Satz “In der Schweiz wäre das niemals passiert!” schoss mir kurz durch den Kopf, doch meine gut funktionierende Verdrängungs-Armee marschierte umgehend schwer bewaffnet auf als sei ich die Ukraine und ich vergaß alsbald diese unliebsame Szene.
Ein paar Tage später sah ich das Männchen überraschend wieder. Es war früher Abend, die Sonne warf die Leipziger Innenstadt für ihren (nicht deren) Untergang noch einmal in Schale. Das unfreundliche Plumpsäckchen stand, eine Portion Pommes konsumierend, vor der zentralsten Currywurst-Bude der Stadt, als ein etwa 200-köpfiger Flashmob des Leipziger Tanztheaters sich tanztheatralisch vom Markt her in Richtung Leuschnerplatz bewegte und genau vor dem Männchen Halt machte, um jede seiner Essensbewegungen in Zeitlupe nachzumachen oder ihm mit 400 Händen zuzuwinken. Etliche Passanten standen herum, viele filmten das Ganze mit den Mobilfunkgeräten.
Kurz: Es war schmachvoll, es war beschämend für ihn. Er aber reagierte nicht. Gar nicht. Er wusste der Situation nichts entgegenzuhalten. Vielleicht schlief er aber auch nur.
Für uns heißt das alles nur: Bleiben wir wach. Halten wir der Unfreundlichkeit konsequent unser sonniges Wesen unter die Nase. Bieten wir dem Rentner den Platz in der Bahn an, auch wenn er intensiv nach Franzbranntwein und großem Feigling riecht, schlagen wir niemandem, der vollgepackt ist bis zur Halskrause, die Tür vor der Nase zu. Machen wir uns nicht ins Hemd, wenn ein Obdachloser in einem Sparkassenräumchen oder der Uni Wärme sucht. Das kommt zurück – irgendwann. Garantiert. Das Gegenteil aber eben auch.
Und eine letzte Bitte: Nennt das alles bitte nicht neudeutsch-schwachsinnig “Random Acts of kindness” (= zufällige Gesten der Liebenswürdigkeit). Nennt es einfach Menschsein.
In diesem Sinne: Uf Wiederluege mitenand, ich wünsch eu no ganz e schöns Tägli!
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