"Schöne Feiertage und rutschen Sie gut rein!" Vielfach hört man sie jetzt, die nicht mehr ganz taufrische, freundlich-flapsige Floskel für die Tage, an denen dem Jahr so langsam die Puste ausgeht. Reinrutschen - das klingt ja erst einmal gut, dachte ich neulich bei mir. Nachdem ich die ersten schlüpfrigen Gedanken vom Hinterhof der Phantasie zurückgepfiffen hatte, fand ich plötzlich absolut nichts Naives mehr an diesem Wunsch. Im Gegenteil. Keine Formulierung passt im Grunde besser für das Gefühl, das heute sich der Masse bemächtigt zu haben scheint.
Wer irgendwo reinrutscht, der kann nichts dafür, der ist in einer gewissen Passivität gefangen. Der ist von den Zeiten gebeutelt, von diesen hin- und hergeworfen oder einfach ausgeglitten. Da kann man nichts machen! Für das Wechseln der Jahreszahlen ist das auch unbedingt richtig. Wer sich aktiv gegen 2015 stemmt, der wird nicht viel ausrichten können, der rutscht trotzdem oder der zögert nur hinaus – mit einer Fernreise zum Beispiel.
Es hilft alles nichts: 2015 wird kommen. Wen aber wird das Jahr zwischen Kap Arkona und Oberammergau vorfinden?
Unübersichtlich ist die Welt geworden. Das macht dem besorgten Bürger manchmal ein bisschen zu schaffen, wenn er in einer schwachen Minute mal vom iPhone oder Weibchen ablässt und kurz zu einem Gedanken findet. Dabei lässt Tantalos grüßen: Je mehr man die Welt überblicken soll, umso mehr verliert man den Faden.
Ob für diese Globalisierungsgeschichte ein Happyend vorgesehen ist, bleibt noch unklar. Der große Autor da oben lässt sich noch immer nicht so gern in die Karten gucken. Spannung muss sein, keine Frage. Der allzu ausgelassene Kapitalismus hat zwar ein bisschen an Spannkraft verloren seit ganz Ostdeutschland mit Mietwohnraum und Gebrauchtwagen ausgerüstet worden ist, aber die erste richtige Krise haben wir dank Hatha-Yoga und Botox to go immerhin ohne Falten weggesteckt. Noch mal gutgegangen, das Ganze.
Glücklicherweise musste man nicht ständig mehr darüber nachdenken, weil es in den letzten Jahren schlichtweg immer lauter wurde in der Welt: Business-Trolleys ratterten im Akkord über den Asphalt, in Innenstädten rauschten plötzlich erwachsene Anzugs-Leibeigene auf infantilen Rollern an einem vorbei, irgendwo klingelte, tschirpte, läutete, summte, zwitscherte es immer. Vermeintlich verrückt gewordene Passanten schienen auf Gehwegen und an Haltestellen ins Nichts zu kreischen – bis man plötzlich das von der Frisur gecoverte Headset entdeckte, temperamentvoll diskutierten Großstädter neue Essgewohnheiten. Vielerorts herrschte plötzlich Karneval in Bio.
Menschen erklärten auf öffentlichen Plätzen einander lautstark die Bedeutung ihrer Tattoos und in Kaffee-Ausschank-Stuben ratterten ohrenbetäubende Espresso-Maschinen, während Angestellte nach dem Vornamen des Kaffee-Käufers fragten. In öffentlichen Netzwerken entstand eine neue Gesellschaftsschicht: das Kommentariat, welches wiederum offensichtlich oft keiner Vornamen bedurfte.
Das geht nun alles schon ein paar Jahre. Sicher ist ein wenig Lockerung vom eher überschaubar inspirierenden Wiederholungskorsett des Alltags, in das wir uns allmorgendlich zu pressen haben, lindernd für die Seele. Warum dann nicht auch ein bisschen Unterhaltungselektronik anschmeißen, warum nicht mal einen probiotischen Joghurt-Drink ausprobieren, warum nicht mal in einer Kuppelshow mitmachen?
Ohne Zweifel: Der Mensch kann nicht nur arbeiten, Hegel lesen und ins Bett gehen. Aber er kann auch nicht ständig in einer Welt agieren, die von ihm fortwährend fordert zu konsumieren, Preise zu vergleichen, etwas auf Ebay einzustellen, Schnäppchen zu eruieren, Handytarife zu studieren, Payback-Karten zu sortieren.
Da verliert man fast zwangsläufig den Blick für Wesentliches. Achtet nicht mehr so auf sich und die anderen. Nur die Folgen bleiben eben nicht aus: Das Immunsystem der Vernunft schwächelt zunehmend.
Jahrelang mit einem Gefühl der Machtlosigkeit ansehen müssen, wie man systematisch verarscht wird, kann ein bisschen zermürben. Dann wird der Bürger patzig: Wenn Menschen mit Drogensucht, Knabenverehrung und Anzink-Mentalität in die Politik dürfen, will ich wenigstens leichte Adipositas haben, denkt er sich und wird umgehend von seiner Krankenkasse in die Schranken gewiesen. Das macht porös irgendwann. Klar.
Da bleibt es nicht aus, dass eines Morgens der deutsche Körper aufsteht und plötzlich an Pegida Pectoris leidet. An ansteckender sogar.
Ansteckend, aber – und das ist das Wichtigste – nicht unheilbar! Es gibt nämlich etwas, das vielleicht helfen könnte. Etwas, das der slowenische Philosoph Slavoj ?i?ek als “ethische Substanz” einer Gesellschaft bezeichnet.
Eine Gemeinschaft, die im Kern gemeinsame Werte besitzt, kann auch ein paar Krankheitserreger vertragen. Die haben ihr dann einfach kaum etwas an. Die Gemeinschaft schüttelt sich kurz und alles läuft einigermaßen wieder.
Zu dumm nur: Von diesem Zustand sind wir kurz vorm Jahreswechsel 2014/2015 Lichtjahre entfernt. Und schnell ein paar Werte verordnen – das wird vermutlich auch nicht klappen. Es dauert bis so etwas wieder anschlägt. Mitunter vielleicht sogar ein paar Generationen.
Vielleicht ist es aber auch einfach nur quacksalbrig gedacht, wenn man an Heilung einer Gesellschaft glaubt, weil man davon ausgeht, beim Menschen handele es sich um ein Wesen, das fähig sei, sich von seinen Erkenntnissen leiten zu lassen.
Wo doch bereits 72 Jahre nach der Oktoberrevolution mit der Eröffnung einer McDonalds-Filiale in Moskau offen zutage getreten war, dass die Mehrheit der Menschen gewillt zu sein schien, die westliche Welt für einen Quelle der Annehmlichkeiten zu halten und einer völlig konträren Gesellschaftsform zustrebte?
Einer Gesellschaftsform, die – wenn man es genau besieht – keinerlei Theorie bedarf, sondern einzig von der Prämisse ausgeht, der Mensch sei bösartig, gierig und rücksichtslos.
Vielleicht ist es auch nur allzu verständlich, dass viele Ostblock-Bewohner damals rasch zur marktwirtschaftlichen Tagesordnung übergegangen waren, weil in Luftschlössern eben nicht gut Kirschen essen ist und das Bemühen um verschrobene Ideale eben keinen schnellen Kick verspricht?
Wenn wir aber den Gedanken, der Mensch sei sittlich vielleicht doch verbesserbar, komplett ausschließen, dann bedeutet dies das Ende der menschlichen – oder besser – der gesellschaftlichen Zuversicht. Damit kein Zweifel aufkommt: Ich spreche nicht zwangsläufig vom Sozialismus, dessen real existiert habende Fehlgeburt noch zu viele Fragen aufwirft. Das wäre wohl kaum zu entschuldigen. Aber es muss die Frage erlaubt sein: Wenn irgend etwas Sozialismus-Ähnliches aus dem Kreis der Möglichkeiten menschlicher Lebensformen ausscheidet, was bleibt dann noch?
Dann könnten “Spaziergänge” irgendwann eben tödlich enden.
In diesem Sinne: Rutschen wir nicht einfach hinein ins Jahr 2015. Fragen wir nicht, was wir vom neuen Jahr erwarten können, sondern was dieses von uns erwarten darf. Auch wenn es dafür noch keine App gibt.
Aber fallen wir nicht aus dem Ziffernblatt der Feste:
Deshalb zunächst allen recht fröhliche Weihnachten!
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