Am 9. November 1989 fiel die innerdeutsche Grenze. Daran erinnern sich die Deutschen gern. Ich erinnere mich hingegen noch an einen Spruch meiner Musiklehrerin: "Die Deutschen sind ein Volk der ersten Strophe, die anderen vergessen sie zumeist." Mein Zusatz war damals: "Deutschland, Deutschland über alles..." Leider behält der Satz meiner Lehrerin weiter seine Gültigkeit.
Während gerade Kräfte aus CDU, AfD und NPD gemeinsam und öffentlich vor der “kommunistischen” Bedrohung in Thüringen warnen, immer noch ein völlig falsches Geschichtsbild in Zusammenhang mit der friedlichen Revolution produziert und konsumiert wird, gedenkt man all zu gern im kollektiven “Erinnerungs”-Taumel dem, was national erhöht und das gute alte “Wir-Gefühl” stärkt. Der Rest wird gern verdrängt und versickert in den Klärgrube des “nun reicht es aber auch mal”. Dass es dort weiter vor sich hin gärt, ist nicht verwunderlich. Gut vergessen kann man nur das, was erledigt ist, das was nicht mehr andrängt, weil es einmal restlos durch uns durchgegangen ist, einmal bis zum letzten Grund durchgearbeitet wurde.
Zu diesem Prozess gehört nicht nur das Feiern nationaler Sternstunden, deren Entstellung allerorten greifbar ist, sondern auch das schmerzhafte Gedenken an die Abgründe der Barbarei, die sich ereignete, damit sie nicht sich wiederhole. Gemeint ist hier nicht in erster Linie der derzeit oft genannte “Unrechtsstaat” DDR, sondern etwas, was diesem voranging und ihn teilweise erst ermöglichte.
Wer vom 9. November 1989 spricht, darf zum 9. November 1938 nicht schweigen. In der Nacht auf den 10. November brannten in Deutschland die Synagogen. In Leipzig verbrannte in dieser Nacht die Ez Chaim Synagoge in der Gottsched Straße. Heute erinnern freistehende Stühle an das Fehlen des jüdischen Gotteshauses. Die Ereignisse gingen als Reichsprogromnacht in die deutsche Geschichte ein und stehen damit stellvertretend für die Bedingung der späteren Teilung des Dichter- und Denkerlandes, das den Zivilisationbruch prägend mitgestaltet, das Auschwitz und Coventry zu verantworten hat.
Dies nicht zu verdrängen, denn vergessen werden kann es nicht, sollte Aufgabe unserer Erinnerungskultur sein, die jenseits der nationalen Erhöhung ihr Gewordensein nicht unterbetont. Und gerade deswegen ist es so eminent wichtig, dass die noch lebenden Zeugen reden und gehört werden.
Einer dieser Zeugen ist der 90-jährige Schlomo Samson, der heute im Zentrum für jüdischen Kultur (Ariowitsch Haus) über sein Leben berichtete. Zusammen mit Elke Urban vom Schulmuseum Leipzig sprach er über seine Leipziger Jahre. Samson (mit bürgerlichem Namen Manfred) wurde am 2. Dezember 1923 in der Gustav-Adolf-Straße 21 im Waldstraßenviertel geboren und lebt heute in Israel. Bereits in den ersten Sätzen seines Vortrags betont Samson eines ganz klar: die deutschen Juden waren völlig integriert und stellten keine Bedrohung für irgend jemanden dar. Noch bevor er etwas von Abraham, Kain und Abel gehört hatte, kannte er die nordischen Götter der Edda. Aus dem Buch Walhalla las er sogar seinem kleineren Bruder vor.
Als ein weiteres Beispiel für die Integration las Samson aus der Festtabelle der jüdischen Schule, die sich in der heutigen Bibliothek für Blinde befand, vor. Dort feierte man 1912 nicht vorwiegend jüdische Feste, sondern sogar eine Vorfeier zum Geburtstag König August Friedrich von Sachsen sowie den Sedantag und den Geburtstag des Kaisers Wilhelm II. Auch fielen 12.000 Deutsche jüdischen Glaubens in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs.
Auch für die 1924 in der Beethovenstraße geborene Miriam Schapira war das Deutsch-Sein der Normalzustand. In einem Beitrag von Holger Jakisch, der am gestrigen Abend auf MDR Figaro zu hören war, berichtete sie vom ersten Flirt im Rosenthal und von den Klavierstunden. Man nahm die SA zu Beginn nicht ernst und betrachtete die Nazis als eine Episode, die vorbei ginge.
Nachdem Samsons Vater ausgewiesen wurde und in den Niederlanden unterkam, musste sich die Familie allein durchschlagen. Samson selbst wurde am 28. November 1938 in die Niederlande abgeschoben, weil er in einer eigenen Operettendichtung zum Purimfest den Generaloberst Hermann Göring mehr oder weniger bewusst verunglimpft hatte.
Als zum Austausch bestimmter Jude hatte Samson, der zuvor im Durchgangslager Westerbork interniert war und Kartoffel roden musste, das “Glück” im sogenannten “Sternlager” von Bergen-Belsen besser behandelt zu werden, als der Rest. Denn Tauschware sollte nach dem Willen des Reichsführers SS Heinrich Himmler nicht beschädigt werden.
Am 23. April 1945 wurde er auf der Fahrt in das Konzentrationslager Teresienstadt in Törbitz bei Torgau von der Roten Armee befreit. Im Juni 1945 kam er nochmal nach Leipzig. “Dort konnte man auf einem Nachttopf sitzen und die ganze Stadt sehen.” Danach reiste er über Frankreich nach Palästina aus. Seine Eltern und sein Bruder überlebten den industriellen Massenmord nur knapp. Am 4. September 1944 wurden sie in letzter Minute von der Deportationsliste gestrichen. Dieser Transport, war der letzte, der nach Auschwitz ging.
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Für Samson und Schapira sind aber noch andere Daten vor dem 9. November ausschlaggebend. Ende Oktober 1938 (bei Samson der 30., bei Schapira der 28. Oktober) wurden im Zuge der “Polenausweisung” 18.000 Juden polnischer Herkunft ins Niemandsland zwischen Polen und dem Dritten Reich verbracht. Die polnische Regierung wollte allen polnischen Bürgern jüdischen Glaubens, die sich nicht bis zum 30. Oktober in Polen zurückmeldeten, die Staatsbürgerschaft aberkennen. Für die Nazis ein willkommener Anlass. Für die Nazis ein willkommener Anlass. Dass die antisemitische Regierung Polens, die Ausgewiesenen auf dem Feld des Niemandslands unter unmenschlichen Verhältnissen in der Kälte des Oktobers warten ließ, war ebenfalls beiden Parteien recht.
Auf diesem Feld befand sich auch das Ehepaar Grynszpans. Sendel und Rivka Grynszpan überlebten die Shoa. Sendel Grynszpan berichtete im Eichmann-Prozess von den Vorgängen der “Polenausweisung”. Deren Sohn Herschel verübte am 7. November eine Attentat auf den Legationssekretär an der deutschen Botschaft in Paris Ernst vom Rath, der an seinen Verletzungen starb. Das Attentat war für die nationalsozialistische Regierung ein willkommener Anlass die von langer Hand geplanten Progrome in die Tat umzusetzten. Dieser Anlass soll nun auch noch in gewisser Hinsicht forciert worden sein. Neuere Forschungen (Armin Fuhrer: Herschel: Das Attentat des Herschel Grynszpan am 7. November 1938 und der Beginn des Holocaust, Berlin-Story Verlag) wollen nachweisen, dass vom Rath, der seine Verletzungen hätte überleben können, auf Anweisung Adolf Hilters medizinisch unzureichend versorgt worden war.
Von den ehemals rund 14.000 Leipziger Juden waren nach Kriegsende nur noch 24 übrig. Über 2.000 konnten flüchten. Leute wie Miriam Schapira und Schlomo Samson haben überlebt. Sechs Millionen als Juden Verfolgte wurden während der Shoa ermordet.
Wer will kann in Samsons Buch “Zwischen Finsternis und Licht” mehr über sein Leben in Leipzig und über seinen Leidensweg erfahren. Auch im Buch von Sylvia Kabus “Wir waren die Letzten … – Gespräche mit vertriebenen Leipziger Juden” wird das Andenken hochgehalten. Ebenso verweisen die vielen Stolpersteine vor den Häusern der Deportierten auf deren Leben und Sterben. Dazu lädt die Stadt Leipzig seit 1992 ehemalige jüdische Einwohner und ihre Nachfahren zu einem mehrtägigen Besuch in die Messestadt ein. Damit gibt man ihnen und gegen sie sich selbst das wieder, was die Deutschen ihren jüdischen Mitbürgern nehmen wollten – Geschichte!
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