Wolfgang Lippert - hat der nicht mal eine Zange mitgehen lassen, im Baumarkt? Und wurde dabei erwischt? Die Sache ist lange her; sie stand in Gazetten, die ich nicht lese. Trotzdem fällt meinem boshaften Gedächtnis genau das ein, als ich am Tisch hinter mir den Mann mit der Brille und der hohen Stirn erkenne. Wolfgang Lippert, Ost-Prominenter. Ich weiß nicht, wie viele Gäste außer mir auch an Baumärkte, Werkzeug, Sonderangebote, Kaufhausdetektive u.ä. denken bei seinem Anblick.
Ich überlege, meinen Tischnachbarn einzuweihen, einen Gönner vor dem Herrn, der mich eingeladen hat heute Abend. Doch er stammt aus Hessen und kennt Lippert nicht, trotz der Handvoll “Wetten Dass?”-Sendungen, die dieser einst moderieren durfte.
Guck mal, ich glaube, der dort hat mal geklaut! Nein. Ich behalte mein Halbwissen für mich. Schlimm genug für Lippert, dass er die Zangen-Schmach vermutlich bis zum jüngsten Tag nicht mehr loswerden wird. Die Verbrechen der Prominenten verjähren nicht, und kaum eine menschliche Empfindung ist so langlebig wie die Schadenfreude. “Good Evening Houston – Let`s have a ball!”, so das Motto des Abends, zu dem ich erschienen bin, unbedarft und schlecht vorbereitet. Bodenlanges Abendkleid? Besitze ich keins. Ich hab eins geliehen, von meiner Mutter. Es passt mir, trotzdem fühle ich mich nur halbwohl. Was auch daran liegen mag, dass ich vor dieser rauschenden Ballnacht, wie sie das Programmheft verspricht, weder beim Frisör noch beim MakeUp-Artist noch bei der Maniküre gewesen bin, also unterm Strich null Cent investiert habe in meinen Auftritt. Marke Eigenbau, unglamourös. Eine Schnäppchenjägerin! Denn ohne Einladung wäre mir ein Besuch des Opernballs bestimmt nicht in den Sinn gekommen. Ich wäre fünfhundert Meter weiter gegangen, in die Alte Börse. Dort veranstaltet ein Freund von mir einen Afrika-Abend zum Thema Asyl.
Über den roten Teppich zu laufen habe ich abgelehnt. Obwohl mein Begleiter meint, als bislang wenig bekannte Schriftstellerin könne ich jegliche Publicity brauchen. Ich bin mir da nicht so sicher. Was soll gut daran sein, zwischen rätselnden (Wer ist das?) oder gleich abwinkenden Klatschreportern Spießruten zu laufen? Dazu reicht mein Mut nicht. Wir sind deshalb mit dem Lift aus der Tiefgarage direkt ins Foyer gefahren. Und landen vor der Kühlerhaube eines nagelneuen Porsche Macan. Herrliches Blau. Der Hauptpreis der Tombola, 77.000 Euro wert. Die 4.000 Lose (eins kostet zehn Euro, der Erlös geht an die Stiftung “Leipzig hilft Kindern”) sind bereits ausverkauft. 4.000 Stück? Mann, da haben aber einige Leute gehortet. Ihr edler Spendersinn hat sie verleitet.
Von unserem Tisch im Saal aus schauen wir auf ein Meer aus weiß gedeckten, mit Lilienbouquets geschmückten Tischen, bis hinunter zur Tanzfläche. Eine prächtige Szenerie. Irgendwo unter den knapp 800 Gästen müssen welche aus Houston sein, Leipzigs texanischer Partnerstadt. Die möchte ich gern treffen. Doch ich spüre schon, das wird schwierig. Ich kenne hier nicht die richtigen Leute. Schlimmer noch: Unter all den Anwesenden entdecke ich keinen einzigen Freund, keine einzige liebe Bekannte. Nur ein paar Gesichter vom MDR, die halb blasiert, halb gelangweilt dreinschauen. Wie kann das sein? Ich lebe schon lange in Leipzig, scheine mich aber bis jetzt in einem anderen Universum bewegt zu haben: dem der Literaten, Lebenskünstler und anderen Kirchenmäuse. Ich bin fremd in der eigenen Stadt.
Das Gewandhausorchester auf der Bühne spielt Johann Strauß. Viele Paare drehen sich schon auf dem Parkett. Nur ich mag noch nicht, zur Enttäuschung meines Begleiters, dem der Dreivierteltakt in den Füßen pulsiert. Wiener Blut, Kaiserwalzer … es sind genau die Straußschnulzen, die mir ein bisschen zum Hals heraushängen, weil man sie immer und überall hört. Endlich etwas Betörendes: Schostakowitsch, sein Walzer 2 aus der Suite Nr. 2. Das gefällt mir viel besser. Ich komme fast ein bisschen in Stimmung. Von der Saaldecke hängen sanft strahlende Lampen … doch die Brüstungen der Ränge sind mit dicken Girlanden aus Luftballons geschmückt. Wie zur Eröffnung eines Autohauses. Das passt weder zum Saal noch zu den Preisen in der Getränkekarte.
Ich entscheide mich spontan für Champagner.
“Teitinger”, liest die Kellnerin aus der Karte vor.
Ich stutze. “Meinen Sie Taittinger (Teetongschee)?” frage ich zurück.
“Ja”, entschuldigt sie sich, “aber wenn ich Teetongschee sage, verstehen mich die Gäste nicht!”
Aha, denke ich, so ist das also mit dem Publikum hier. Bisschen mehr Autohaus als Oper. Wir trinken. Und gehen bald darauf tanzen, zur Freude meines Begleiters, auf dem von Kameras observierten Parkett. Eine Rumba wird gespielt, zu der manche Paare Cha-cha-cha tanzen. Dann wieder ein Wiener Walzer. Mir wird schwindlig vom Drehen auf der Stelle. Es geht eng zu. Die Paare sind altersmäßig gemischt und ethnisch homogen. Keine Schwarzen, Asiaten oder Latinos in Sicht. In der Alten Börse, fünfhundert Meter von hier, ist das mit Sicherheit anders. Ich beginne zu schwitzen. Am Rand der Tanzfläche blitzen Kameras; offenbar walzert dort jemand Bemerkenswertes. Vielleicht ein Arzt aus der Sachsenklinik? Oder der Chef von Porsche, Hauptsponsor des Balls? Ich möchte es gar nicht wissen. Als wir zurückkehren zum Tisch, läuft mir Peter Escher über den Weg, der kürzlich verrentete Robin Hood des MDR-Sendegebiets. Wo der auftaucht, sollte man gehen, davon bin ich eigentlich überzeugt. Doch es wäre schade um den Champagner.
Als das Essen kommt, werde ich glücklich. Kastenmeiers, der Nobel-Caterer aus Dresden, macht seine Sache großartig. Nie habe ich köstlichere Saucen geschmeckt, auch in Japan kein besseres Wakame-Seegras gegessen. Passend zum amerikanischen Motto des Abends gibt es als Hauptgericht Surf `n Turf, eine Speise aus dem Meer kombiniert mit einer vom Land: ein Rindersteak, groß wie ein Herz und zartrosa im Inneren, und dazu – nun, in Kalifornien hatte ich mal einen prächtigen Hummerschwanz auf dem Teller. In Leipzig ist es eine kleine Garnele. Warum nicht, es ist weniger dekadent.
Die Musik wechselt inzwischen von Walzer zu Oper. Aus Houston sind Sänger gekommen. Reginald Smith Jr., ein beleibter Schwarzer mit Cowboyhut, singt eine Arie aus “La Fanciulla del West”, einer wenig bekannten Westernoper von Puccini. Sein Bariton gefällt mir, ich möchte zuhören, auch dem wunderbaren Gewandhausorchester unter Leitung von Anthony Bramall, auch der jungen Sopranistin Sofia Selowsky … Doch die Gäste an den Tischen hören nicht auf zu schwatzen. Banausen! Benehmen sich wie zur Kaffeefahrt mit Achim Menzel! Meine seltsame Stimmung, das Schwanken zwischen Begeisterung und Entsetzen, begleitet mich weiter. Die Moderatorin des Abends, bekannt geworden durch eine Talkshow des MDR, ist mir auch keine Hilfe. Ich weiß nicht: soll man dieser Kim Fisher außerordentliche Chuzpe bescheinigen oder Größenwahnsinn? Mitten auf der Opernbühne, man stelle sich vor, greift auch sie zum Gesangsmikrofon. Für einen alten Hit von den Turners, schließlich soll das Programm amerikanisch angehaucht sein. Sie singt nicht schlecht, aber muss das sein? Eine Oper ist keine Karaokebar, finde ich, ihre Bühne sollte den wahren Meistern des Fachs überlassen bleiben. So meckere ich, altmodisch und in Mutterns Kleid, wie ich bin.
Kim Fisher aber hat noch nicht genug. “Dancing Queen” erklingt aus ihrer Kehle und von den Geigensaiten, genau jener ABBA-Song, der zumindest mir schon so oft um die Ohren genudelt wurde, dass ich mich trotz seiner Schönheit nicht mehr an ihm erfreuen kann. Das Publikum schwelgt; endlich Musik, die auch der Letzte im Saal kennt und versteht. Zeit für mich und meinen Begleiter, eine Runde durchs Haus zu drehen, in die Foyers und Lounges, wo sich die Besitzer der mit 139 Euro geradezu schnäppchenhaften Flanierkarten tummeln. 1.500 Leute. Doch auch hier kaum ein bekanntes Gesicht. Dafür reichlich blasierte Mienen, schlimmere als im Saal. Sehen und gesehen werden, ach Gottchen, was für ein Druck. Wer ist die Schönste im Land, wer der markigste Kerl? Und wer lässt das meiste Geld springen, vielleicht sogar am Roulettetisch in der Zigarrenlounge?
Ich fühle mich immer unwohler. Im Konzertfoyer im zweiten Stock dann die Überraschung: eine Live-Band namens Brooklyn Bridge, aus Berlin. Ein Sänger mit afro-hispanischen Wurzeln, eine Art Ritchie Valens, und zwei schwarze Sängerinnen. Sie spielen “Happy” von Pharell Williams, Robin Thickle`s “Blurred Lines” und andere Ohrwürmer, die einfach nur gute Laune machen. Super, dass diese Band zum Programm gehört. Einzig meine Garderobe erweist sich als Spaßbremse: im bodenlangen Abendkleid abzuhotten ist irgendwie komisch. Wieder passt etwas nicht zusammen; der ganze Abend ist eine Schizophrenie.
Als Brooklyn Bridge sich verabschieden, kehren wir zurück in den Saal. Wir haben den Star-Act verpasst: Kim Wilde, die englische Nena. Na, da war bestimmt nicht viel zu verpassen. Ihr Auftritt ist gerade vorüber, eine Zugabe lehnt sie offenbar ab. “Ich glaube, sie kommt nicht mehr wieder,” ruft Kim Fisher wehleidig ins Mikro, und stimmt, wie um zu beweisen, dass eigentlich sie die bessere Sängerin ist, eine Refrainzeile der Namensvetterin an. Als nach Mitternacht die Tombola steigt, zweifle ich nicht länger: Autohaus schlägt Oper. Der Hauptpreis, jener fabrikfrische Porsche Macan aus dem Eingangsfoyer, wird auf der großen Bühne enthüllt. Ihn gewinnt eine attraktive Brünette, die nicht aussieht, als müsse sie hart arbeiten für ihr Geld.
“Welches Auto fahren Sie momentan?” fragt die Moderatorin.
“Einen Audi”, sagt die Gewinnerin.
Es ist wie im Literaturbetrieb: wer hat, dem wird gegeben. Ich versuche auszurechnen, wie lange beispielsweise ein Lyriker mit bescheidenen Ansprüchen von den 77.000 Euro, die dieser Porsche wert ist (der Lyriker würde ihn sicher verkaufen statt ihn zu fahren), leben und arbeiten könnte. Ohne Brotjob und Hartz. Zwischen drei und sechs Jahren bestimmt.
Vom Champagner und den Gefühlsschwankungen müde geworden, habe ich am Swing Dance Orchestra unter Leitung von Andrej Hermlin keine rechte Freude mehr. In den Flanierbereichen, wo bis um 05:00 Uhr DJs auflegen sollen (unter ihnen Comedian und BILD-Liebling Oliver Pocher), würde ich mich vermutlich ebenso abgeschlafft fühlen. Oder einfach nur auf der falschen Veranstaltung. Also nach Hause. Unter Vermeidung jeglicher Publicity (der Fotograf am Ausgang ist beleidigt, weil ich mich nicht knipsen lasse für die Opernball-Webseite) lasse ich mich heimfahren, eine kleine Tragetasche mit Werbegeschenken auf dem Schoß. Ein Döschen Sekt, drei Ampullen mit Anti-Falten-Serum, ein edler Flaschenöffner … Hat sich der Ausflug doch gelohnt. Möchte ich wiederkommen, nächstes Jahr? Im eigenen Kleid, edler frisiert und geschminkt? Ich weiß nicht. Vielleicht, wenn mich Freunde begleiten. Solche, die wie ich staunen über den Mix aus Hochkultur und Banausentum, made in Leipzig. Dafür aber stehen die Chancen schlecht, schlechter als halb und halb.
Diana Feuerbach, 1972 im Erzgebirge geboren, hat am Leipziger Literaturinstitut studiert, lebt und schreibt in Leipzig. Im Frühjahr ist im Osburg Verlag ihr erster Roman, “Die Reise des Guy Nicholas Green” erschienen.
Keine Kommentare bisher