Revolution war keine erwartet an diesem 9. Oktober 2014. Ein wenig - "Wie steht's um die Sicherheit" - Mediengerede und der Vorwurf einer verkitschten Erinnerung gab es im Vorfeld in Leipzig. Und dann das kleine Gemeinsame, was irgendwie gut gelang. Gemächlich setzte sich der Zug von derzeit geschätzten 150.000 bis 200.000 Menschen gegen 19:30 Uhr in Bewegung. Es hatte etwas von einer friedlichen Andacht und einem Marsch ohne Parolen und Geschwätz. Vielleicht die beste Art, 25 Jahre danach dem Mut letztlich Weniger im Meer einer unberechenbaren Weltbewegung Respekt zu zeigen. Vielleicht auch der minimale Konsens im Umgang mit der heutigen Sicht auf einen in jeder Hinsicht weitaus kälteren 9. Oktober 1989.
Reden waren vorab auf einer hohen, für viele weit entfernten und voll besetzten Bühne gehalten worden, wo 1989 keine war und sich auch keiner hingetraut hätte. Man hörte im Umfeld des Augustusplatzes, es wären auch gute Beiträge darunter gewesen, dazu sicher bald mehr. Auch zu den Gegenprotesten, welche sich rings um das Thema Ungarn und heutige Zustände in der EU und weltweit am gestrigen 9. Oktober entspannen. Doch es waren sehr viele schlicht zu einem gemeinsamen Gang um den Leipziger Ring gekommen. Ein Vorhaben, welches den Kern dessen fand, worum es bei einem lebendigen Gedenken gehen könnte. Dass der Ring so vollständig frei war für die Gekommenen, wirkte fast wie eine Einladung, sich durchaus öfter so raumgreifend bewegen zu können.
Und so standen die meisten außerhalb der erinnernden Worte eher unter sich. Da, wo auch 1989 die ersten Schritte begannen, seitlich auf dem Ring, vor der Alten Hauptpost setzte sich die Menge in Bewegung. Bereits wenige Schritte später Rauch und der Hinweis einer jungen Dame in Silber auf einem Podest, dass es hier um die Menschen ginge, welche damals und heute um das Leipziger Zentrum gehen. Rechts an den Fassaden die Bilder der damaligen Grenzgänger für die heutigen Menschen auf dem Mittelstreifen einer breiten Straße. Auf den Gleisen und Straßen die, welche heute ohne Behinderung weitergehen können.
Statt einer Polizeikette und aufgepeitschtes Hundegebell vor dem Hauptbahnhof die erste wirkliche Stelle zum Verweilen – die Jahre 1953, 1961 und 1989 im Kontext – Stalins Tod, ein junger Handwerker vom 17.-Juni-Aufstand, bei welchem er nur sein Handwerkszeug gegriffen habe und losgezogen sei, fliegende Steine, brechende Staatsmacht und die bis heute bekannte, brutale Reaktion. Applaus ab und zu und Innehalten. Erste Gespräche und eine Gruppe junger Männer, die sich die Abläufe auf der Leinwand dreimal anschauen. Die Kerzenlichter sind neben ihnen aufgereiht, man sitzt auf den sonst hektisch umspülten Geländern der zentralen Haltestelle am größten Kopfbahnhof Europas.
“Laufend gab es Gerüchte, dass im Krankenhaus Plätze und Blutreserven bereitgestellt werden” wenige Schritte später an einem neu gebauten Hotel am Leipziger Ring. Es sind die Ängste derer, die 1989 liefen. Alles, was man heute dabei denken kann, geht 25 Jahre zurück, braucht einen Abgleich mit den längst weniger greifbaren Gegnern jetzt und geht teils längst ins Leere. Zurück in eine Zeit, wo das heute vorbeiziehende Publikum damals kraftvoll und heute alt, so mancher damals mittel-jung und heute zornig und glücklicherweise viele in dieser Nacht des 9. Oktober 2014 noch so jung sind, dass sie damals noch gar nichts gedacht haben. Sie haben heute andere Herausforderungen – vielleicht sogar schwerere.
Am Neuen Rathaus erklärt ein Vater seinem rund 30-jährigen Sohn, was er da sieht. Sie sind gerade an der “Runden Ecke” vorbeigekommen und stehen nun hier. Die durchaus gelungene Videoprojektion zeigt an der Rathausfront einen Stacheldrahtzaun, eine Wahlurne, ein Räderwerk und eingemauerten Stahl rings um die Mitte. Nach einem großen Knall winkende Gestalten in den mit Licht nachgezeichneten Rathausfenstern. Dann Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – Worte an der Wand des höchsten Leipziger Parlaments.
Er, der Vater, sei 1989 mit Joachim Gauck in Rostock gelaufen, sein Sohn hört zu. Vielleicht kommt seine Revolution noch, vielleicht bleibt sie aus, vielleicht wird er mehr Leid erfahren, als sein Vater ihm vermitteln kann? An diesem Abend nicht erfahrbar. Folklore, echte Haltung und Herausforderungen kommender Tage stehen vielleicht immer nebeneinander.
Kurz darauf dröhnt wieder an der Thomaskirche der alte Schlachtruf “Stasi in die Volkswirtschaft” und “Mindestrente fürs ZK”. Wenig später fragt sich am Leuschnerplatz so mancher, was der Technonebel mit 1989 zu tun haben könnte. Es gibt eine Vermutung: Spätestens hier kann man sich ungesehen vom Acker machen. Nicht, dass noch etwas nachkommt.
Nachtrag: Für die zu Recht Unzufriedenen heutiger Tage musste es selbst angesichts der mindestens 150.000 wie Folklore wirken. Es könnte aber auch eine kleine Auszeit an diesem Abend in Leipzig gewesen sein. Denn es war freundlich bis friedlich – etwas in der Nähe eines gemeinsamen Konsensgedankens. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere nach dem Erwachen daran und beginnt seinen Morgen des 10. Oktober 2014 in diesem Geist?
In tiefem Respekt gegenüber meinem Vater.
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