Die Ansprache ist freundlich rau, der Tonfall klar. Hier regiert der L.O.Ga. Nach vielen Jahren vollständiger Stadionabstinenz habe ich hier logischerweise keine Freunde mehr. Überall Gruppen, es wird diskutiert, gestikuliert, geschimpft und gelacht. "Wie stehts bei Meuselwitz?" kurz darauf "Was macht Babelsberg"? Woher soll ich das wissen? Und warum ist das wichtig? "Bistn Neuer? Macht nüscht, wir freuen uns." Überraschend bin ich - ganz ohne Schal und Dresscode - einfach aufgenommen unter den Blau-Gelben. Lok führt 1:0 gegen Magdeburg, ich bin im guten alten Bruno-Plache-Stadion und die Stimmung ist heute bestens. Ein Leipziger in Leipzig im Neuland.
Da musste wohl erst eine dramatische Saison für Lok langsam enden, dass es mich doch noch einmal ins Stadion zieht, weg vom Fernblick, mitten hinein in einen Verein, der neuerdings mit offenen Karten, wieder wirklich mit seinen Fans als 12. Mann und heute auch überraschend guten Fußball spielt. Ausgelöst nicht nur durch eine freundliche Einladung meiner Kollegen, auch die Debatten rings um den neuen großen Hochglanz-Player RB Leipzig und der Mitteilung meiner Mutter, wie toll es da alles sei in der Arena, spielten wohl eine Rolle.
Die eigene Kindheit in dieser süd-östlichen Leipziger Ecke zwischen Schule, Wohnen, Sport fällt mir genau hier wieder ein, als ich unter den springenden und jubelnden Frauen und Männern erst auf der Tribüne, dann im Block stehe. Fast, als ob ich ein Leipzig wiederfinde, was ich nur vergessen hatte – auf den Plätzen hinter der Tribüne war einst Stadtspartakiade – ich Dritter von Drei beim Kugelstoßen. Ich hatte mich gerade noch rechtzeitig auf die Liste geschrieben – dafür gabs ne Medaille für jemanden, der sonst eher beim Langstreckenlauf oder Hochsprung punkten konnte.
Allzulang war die Aura um den Kiez-Fußball in Probstheida von Gewalt geprägt, heute sehe ich hier Kinder auf den Zäunen stehn, der Steppke vor mir schwenkt begeistert seine Vereins-Fahne und ruft immer wieder “L.O.K.”. Immer wieder erklingt das Probstheidalied, von Hass oder gar Gewalt keine Spur. Bei der Anfahrt habe ich unzählige Einsatzwagen gesehen, die Polizei hat die Partie gegen Magdeburg als Hochrisikospiel eingestuft, ein Helikopter rattert am Himmel. Irgendwie passt der martialische Aufzug der schwarzen Hundertschaft da unten am Spielfeldrand nicht zum Verhalten der meisten rund 4.000 Fans der Lokomotive hier um mich. Die Magdeburger sind wohl keine Freunde der Leipziger – aber es bleibt hier wie drüben friedlich.
Natürlich nur bis zum 2:0 – nach Langners Dribbling in der ersten Halbzeit hat Lok eine sehenswerte, schnelle Kombination gespielt, der Tormann von Magdeburg steht allein da und versuchts mal kurz mit “Abseits”. Um mich herum explodiert die Stimmung, ha! Krawall, ein Mann hat Bier verschüttet?
Es sind viele harte Jungs jeden Semesters, die hier herkommen, aber der Kinder- und Frauenanteil scheint gestiegen zu sein. Irgendwie kommen mir die Gesichter bekannter vor, als aus so manchem Meeting oder in den üblichen Pressekonferenzen. Gut so denke ich, als ich mit meiner Bratwurst in der Hand wieder auf die Tribüne krabbele. Irgendwie Leipzig, wie ich es mag. Auch die Angst unter gestandenen Männern, die sich nach dem 1:2 breitmacht.
Erst nach dem Abpfiff wird selbst mir klar, dass das Gegentor der Magdeburger tatsächlich in der 88. Minute fiel. Gefühlt eine halbe Stunde vor dem Abpfiff. Da sieht man mal, was Fußball so mit der Zeit anstellen kann, wie muss es den Fans hier um mich herum ergangen sein.
Und endlich ist es vorbei, die Lokomotive steigt doch noch nicht ab und kann es am kommenden Wochenende aus eigener Kraft schaffen in der Regionalliga zu bleiben. Gut so, denke ich beim davontrotten, einen Abstieg hätte die Lokomotive, die ich heute gesehen habe, samt dem zahlreichen Anhang wirklich nicht verdient. Das Leipzig, was ich kenne, irgendwie auch nicht.
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