Der "Kreuzer" beschäftigt sich in seiner April-Ausgabe unter dem Titel "Gottes Reich" mit einem Thema, über das in Sachsen in der Regel wenig gesprochen wird: den Evangelikalen. Eine Studie der Leipziger Autorin Jennifer Stange unter dem Titel "Evangelikale in Sachsen", die sie für die den Grünen nahe stehende Heinrich-Böll-Stiftung geschrieben hat, hatte den Unmut des Landesbischofs erregt.

Eine “überhebliche Anmaßung” hatte Jochen Bohl, der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, die im Januar erschienene Studie genannt. Unter anderem. Die 46-seitige Studie ist nur eine Zusammenfassung der zweijährigen Studien Stanges in Sachsen. Studien, die sich im wesentlichen auf einen Landstrich entlang der sächsisch-tschechischen Grenze vom Erzgebirge bis zum Vogtland konzentrieren, wo diese Spielart des christlichen Fundamentalismus besonders ausgeprägt ist.

“Als Evangelikale werden heute zumeist bibeltreue evangelische Christen in Deutschland bezeichnet”, schreibt Jennifer Stange. “Für sie ist die Bibel Lebens- und Glaubensgrundlage. Sie glauben häufig nicht nur an Gott, sondern auch an das Böse, an den Teufel, sie glauben an das Jüngste Gericht und sie glauben, dass Jesus auf die Erde zurückkommt.

Bekannt ist diese Strömung vor allem aus den USA, wo die besonders in den Südstaaten beheimatete evangelikale Bewegung in den vergangenen Jahren auch verstärkt zu einer politischen Strömung geworden ist und massiv Einfluss nimmt auf Gesellschaft und Politik. Traditionell wird dieser streng gläubige Landesgürtel als “Biblebelt” bezeichnet, als Bibelgürtel. Und die Parallelen sind für Jennifer Stange unübersehbar: Auch Sachsen hat seinen “Biblebelt”.

Und auch die hier heimische Strömung versucht, sich gesellschaftlich und politisch nicht nur zu positionieren, sondern auch Einfluss zu nehmen.

Manches davon auch durchaus kritisch gesehen von der Sächsischen Landeskirche, die sich selbst als pluralistisch versteht und bestrebt ist, “religiöse Haltungen und Frömmigkeitsrichtungen als Reichtum zu nutzen”.

Aber Fundamentalisten können und wollen mit Vielfalt nichts anfangen. Sie erklären ihre “fundamentels”, wie sie in den USA formuliert wurden, für Regeln, an die sich alle zu halten haben. Alles, was davon abweicht, ist schon des Teufels. Zu welchen obskuren Erscheinungen so eine Haltung führt, zeigt der seltsame Erfolg der Kreationisten in etlichen Staaten der USA, die die biblische Schöpfungsgeschichte zum gültigen Lehrstoff in den Schulen gemacht haben.

“Bibeltreue Christen vertreten und verbreiten eine kompromisslose Glaubensauffassung, die sich zum Teil massiv von einem aufgeklärten Glauben, wie zum Beispiel dem liberalen Protestantismus, unterscheidet”, schreibt Jennifer Stange. “Denn wer die Unfehlbarkeit der Bibel propagiert, steht einerseits im latenten Konflikt mit anderen Religionen, anderseits untergräbt ein Glaube, der aufgrund religiöser Absolutheitsansprüche gesellschaftliche Geltungsmacht beansprucht, die Religionsfreiheit als Freiheit von der Religion.”

Eine Haltung, die den gesellschaftlichen Diskurs nicht nur verweigert, sondern diesen sogar als Angriff wertet.Und da ist man in einer Strömung, die mittlerweile seltsame Blüten treibt. Die sich mit Autoren wie Thilo Sarrazin und nun auch Akif Pirinci in dicken Bestsellern verkauft. Vom Tonfall mögen sie sich unterscheiden. Doch der Tenor ist derselbe: Es geht gegen eine scheinbar von Humanismus, Pluralität und Aufklärung zersetzte Gesellschaft, in der das alte, paternalistische Lebensmodell bedroht ist.

Und regelmäßig melden sich Vertreter solcher fundamentalen Positionen zu Wort und versuchen, ihre Abgrenzung als gleichwertige Diskussionsposition zu verkaufen – obwohl sie auf jede Kritik sofort mit Abwehr reagieren. Denn ihre eigene Haltung wollen sie ja nicht diskutiert sehen, das begreifen sie schon als Angriff oder – gern so benannt – als Diskriminierung.

Jennifer Stange: “Emanzipation, Aufklärung, wissenschaftlicher Fortschritt und sexuelle Aufklärung, dies alles sind Themenbereiche, bei denen die Vertreter einer fundamentalistischen Position Gefahr laufen, in einen grundsätzlichen Konflikt mit der gegenwärtigen Gesellschaft zu geraten. Folge dieser Frontstellung ist die zunehmende Abschottung und Isolation, wie sie für religiöse Sondergemeinschaften und christlich fundamentalistische Gruppierungen charakteristisch sind. Dies wiederum sei mit einer ‘starken Milieukontrolle, hohem Konformitätsdruck nach innen, Feindbildern und einer Schwarz-Weiß-Sicht der Außenwelt’ verbunden, schreibt der Weltanschauungsbeauftragte der evangelischen Landeskirche in Württemberg. Diese Beschreibung deckt sich mit der Wahrnehmung derjenigen, die im streng protestantischen Umfeld im Erzgebirge leben bzw. gelebt haben.”

Warum es gerade im “sächsischen Bibelbelt” so ist, versucht sie zumindest zu erklären mit den sozialen Umbrüchen der vergangenen Jahre und den dort besonders massiv zu erlebenden demografischen Entwicklungen. Junge Menschen ziehen fort, weil sie vor Ort keine Basis für eine Existenzgründung sehen. Die Zurückgebliebenen versuchen ihr Heil in die Flucht in ein ideales Bild einer zu verteidigenden “christlichen Welt”.

Aber das Gedankengut ist nicht nur in dieser Region verankert. Insbesondere über die CDU sickert es auch in die sächsische Landespolitik. Jennifer Stange nennt die Haltung Steffen Flaths als exemplarisch für den Versuch, fundamentale christliche Haltungen auch in die Politik zu tragen. Was der Politik im Land tatsächlich einen zuweilen verblüffend starken religiösen Charakter gibt. Zuweilen fühlt man sich wie im tiefsten Bayern, und das, obwohl sich in Sachsen nur 25 Prozent der Menschen konfessionell gebunden fühlen. Und auch von diesen vertreten die Wenigsten eine fundamentalistische Haltung.

Doch gerade mit den evangelikalen Haltungen wird auch etwas angesprochen, was die Leipziger Forschungen von Elmar Brähler, Oliver Decker und Kollegen in ihren Studien zum “Rechtsextremismus der Mitte” herausgearbeitet haben: die starke Verbreitung rechtsextremer Ansichten und Haltungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Es sind einfache Bilder, die dem Bedürfnis einiger Menschen entgegen kommen, auch ihre Haltung zur Welt ganz einfach zu strukturieren – in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse, in Gesund und Krank, in Richtig und Falsch. Und damit sind sie anfällig für die einfachen Erklärungsmuster, die fundamentalistische Strömungen anbieten. Und es ist kein Zufall, dass die Evangelikalen mit ihren Haltungen der Abwehr gegen alle Verunsicherungen der Moderne in erstaunliche und erschreckende Nähe zu den Rechtsradikalen im Land kommen.

Ihre “Feinde” sind – wen überrascht es – praktisch dieselben: “Heute versprechen die Evangelikalen Rettung vor der ‘neuen Atheismuswelle’, der ‘Diktatur der Toleranten’, dem allgemeinen Werterelativismus, der Porno- und Alkoholsucht, anderen Verführungen der Gegenwart wie dem ‘Wohlstandswahn’ und den Medien ebenso wie vor den ?Irrglauben? der Muslime, Buddhisten und Juden”, schreibt Jennifer Stange.Und das Vokabular findet man fast genau so auch bei Thilo Sarrazin und Akif Pirinci. Den Tonfall ebenso.

“Das tägliche Brot des Evangelisten ist die heilsgeschichtliche Dramatisierung, die Drohung mit dem Jüngsten Gericht, der Begegnung mit Gott nach dem Tod, wo er die Entscheidung trifft, ob dieser oder jener Menschen in die Hölle oder in den Himmel kommt”, schreibt Stange. “Dieser Topos wird in Sachsen von wenigen Gläubigen so strapaziert wie von den Predigern des Evangelisationsteams und der AG Welt.”

Und der Missionarseifer endet nicht dabei, Menschen in Krisensituationen zu bekehren und ihnen die eigene Gemeinschaft als Hort der Seligen anzupreisen. Man will mehr. Vorbild auch hier: die USA mit ihrer übermächtigen Strömung der Evangelikalen innerhalb der Republikaner.

“Evangelikale wollen die Gesellschaft verändern und rufen zu mehr Engagement in der Politik auf”, schreibt Jennifer Stange. “Dabei richten sie sich häufig gegen einen als Orientierungslosigkeit verstandenen Wertepluralismus sowie gegen eine Vielfalt gesellschaftlicher Lebensentwürfe, die Kennzeichen heutiger Demokratien ist.”

Der sächsischen Landeskirche und Landesbischof Bohl schreibt Stange eine Appeasementpolitik (engl. appease = beschwichtigen) zu. Womit sie ein Thema berührte, bei dem die Landeskirche eh schon unter Feuer stand – aus dem evangelikalen Lager, das gar nicht bereit ist, zu differenzieren und verschiedene Haltungen auch im Protestantismus als selbstverständlich zu nehmen. Wie denn auch, wo man doch nur die unverrückbaren fundamentalen Regeln als alleingültige zu akzeptieren bereit ist?

“Diese Differenziertheit greifen die Fundamentalisten an”, schreibt Stange. “Seit Jahren richten sich die Attacken des Evangelisationsteams ganz massiv gegen die Evangelische Landeskirche, gegen eine unaufrichtig und verkommene ‘Mode-Kirche’ und den halbherzigen, minderwertigen Glauben, den sie angeblich vertritt.”

Es ist auch kein einfacher Umgang, wenn die Mehrheit auch in der Landeskirche sich Werte wie Toleranz, Ökumene und Diskussionsfähigkeit als Maßstab gesetzt hat, eine kleine Gruppe aber gar nicht bereit ist, diese Werte zu akzeptieren und immerfort nur in Angriff und Abwehr agiert.

Soll man sie rausschmeißen? – Auch für den Landesbischof ein echtes Problem. Darf die innerkirchliche Toleranz so weit gehen, dass jene, die zu keiner Toleranz bereit sind, immer wieder eine Bühne bekommen?

Es verblüfft schon, wie das, was sich scheinbar nur innerhalb der evangelischen Kirche abspielt, ein getreues Abbild der gesamtgesellschaftlichen Diskussion ist, in der ausgerechnet die Intoleranten immer wieder Wohlwollen für ihre intoleranten Haltungen einfordern – und damit auch noch bestsellerträchtige Bücher schreiben. Ihre Argumente sickern immer weiter auch in den politischen Mainstream hinein. Selbst bei Politikern, die in der Vergangenheit für ihre Konsens- und Gesprächsfähigkeit bekannt waren, tauchten spätestens im Wahlkampf 2013 seltsame Sprechmodule gegen 68er, Gendermainstreaming oder erstaunlich häufig – den regierenden Sozialismus auf. Als hätte es da irgendwann so etwas wie einen heimlichen Gesellschaftsumsturz gegeben und das Land würde überall von Grünen und Linken regiert.

Womit man zumindest schon einmal einen Sündenbock schafft für all das, was aus fundamentaler Sicht derzeit schief zu laufen scheint.

Und es scheint zu funktionieren. Auch in Sachsen. Konservative Politik kann sich als Rettungsboot verkaufen – der Film “Arche Noah” läuft pünktlich in den Kinos an, als hätte ihn Darren Aronovsky extra für den sächsischen Wahlkampf gedreht.

Es ist genau diese apokalyptische Haltung, die fundamentalistische Gemeinschaften wie Lösungen für die Probleme der Welt aussehen lassen. Und aus der heraus eine offene, um Diskussion und Lösungen bemühe Gesellschaft schier bedrohlich aussieht.

Zur Veröffentlichung von Jennifer Stange: www.weiterdenken.de/web/demokratie-politische-kultur-institutionen-1425.html

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