Das Faszinierende an klugen Köpfen ist: Sie vereinfachen die Dinge nicht. Und sie verändern ihre Meinung nicht einfach, bloß weil die Meinung nicht mehr opportun ist. Der 1943 geborene Schriftsteller und Historiker György Dalos lebt in Berlin. Zum Lichtfest 2012 hielt er am heutigen 9. Oktober in der Nikolaikirche die Rede zur Demokratie. Und mancher erwartete natürlich Antworten auf die Frage: Warum steckt das einst so mutige Ungarn derzeit in einer tiefen demokratischen Krise?

Das beschäftigte ja die Leipziger schon im Vorfeld intensiv. Immerhin hatte der ungarische Staatsminister Zoltán Balog die Einladung zum Lichtfest in Leipzig angenommen, hält damit auch die kurze Grußansprache zur Eröffnung des Festes auf dem Augustusplatz. Zuvor hat er in der Alten Börse an einer Diskussionsveranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung teilgenommen die durchaus die etwas eigenwillige Frage aufwarf, ob man inm Deutschland denn überhaupt richtig informiert sei über das, was in Ungarn passiert.

Seltsam genug in Zeiten offener Grenzen und gemeinsamer EU-Mitgliedschaft. Doch jede Entwicklung hat ihre Wurzeln. Manchmal nimmt eine Gesellschaft gemeinsam die völlig falsche Weiche. Manchmal bleibt einfach die so gern entmutigte Mehrheit zu Hause, lässt den kleinen Rest wählen und nimmt dann duldsam wie eine Schafherde hin, was der kleine Rest dann zusammengewählt hat.

Das Problem kennt man auch in Deutschland. Auch hier haben Nationalisten den Sprung in die Parlamente geschafft, weil ein großer Teil der Wahlberechtigten meinte, wählen ändere ja sowieso nichts. Da könne man auch zu Hause bleiben. Und dafür rannten etliche an die Urne, die es “denen mal zeigen wollten”.

Demokratie ist – das will der brave Bürger ja so ungern war haben – immer auch Engagement jedes Einzelnen, Qual der Wahl, Mühe, Anstrengung und ein zähes Ringen. Das haben die Ungarn genauso erfahren müssen. Auch wenn sie noch mitten im Dilemma stecken. Das Dilemma ist manchem Sachsen gut bekannt: Die, die eigentlich miteinander reden müssten, reden nicht miteinander. Und die ewigen Trommelschläger nehmen dafür die offenen Plätze ein und brüllen sich stark.
Sogar einen nicht unwichtigen Fehler der deutsch-deutschen Einigungsprozesses von 1990 benannte Dalos in seiner Rede: die frühe Einvernahme der ostdeutschen politischen Bühne durch die westdeutschen Partei-Strukturen. Man drückte mit der Macht der eigenen finanziellen Potenz dem Osten das westdeutsche Parteienschema regelrecht auf. Das sorgte zwar auch dafür, dass die damalige PDS ruckzuck den Bonus der einzigen verbliebenen Ostpartei bekam (den sie bis heute genießt). Es sorgte aber auch dafür, dass praktisch alle neuen ostdeutschen Parteigründungen schon mit der ersten freien Wahl im März 1990 marginalisiert wurden. Einige wurden – wie der Demokratische Aufbruch – von der CDU herzlichst umarmt und aufgesogen. Andere taten sich – ahnend, was da kommen würde – im Bündnis 90 zusammen, das später mit den westdeutschen Grünen tatsächlich so etwas wie eine Vereinigung zustande bekam.

Dalos zu diesem Kapitel: “Damit engten sie den Spielraum von Dutzenden neuer Organisationen ein, die den gesamten Einfallsreichtum der Wendezeit verkörperten. Dabei waren die Energien des Aufbruchs noch lange nicht erschöpft, als die schöne bunte Unruhe schon so früh in der eingeübten Langeweile unterging. Die Rolle, die den Trägern der friedlichen Revolution in dem wiedervereinigten Land zugebilligt wurde, stand – und steht – in keinem Verhältnis zu ihrer Leistung, ihrem Beitrag zum Niedergang der Diktatur.”

Aber Demokraten machen nun einmal auch Fehler.
“Doch trösten wir uns damit, dass Demokratien ihre Fehler korrigieren können. Demokratien haben – theoretisch – die Fähigkeit, aus ihren Fehlern zu lernen. Dies ist besonders für die Länder lebenswichtig, welche nach der gemeinsamen Vergangenheit einen viel steinigeren Weg als die ehemalige DDR einschlagen mussten”, sagte Dalos. Und war damit natürlich bei den Problemen, mit denen sich die anderen osteuropäischen Länder herumschlagen mussten. “Die Demokratisierung in den Ländern Osteuropas war und bleibt ein schwerfälliger Prozess mit hohen Risiken und tragischen Rückfällen. Wenn ich über Demokratie spreche, meine ich gleichzeitig auch Europa, denn das Modell dieses politischen Systems entwickelten die friedlichen Revolutionen der späten achtziger Jahre nach den Normen des Alten Kontinents, und ihre demokratische Entfaltung hing mit der geplanten Integration zusammen.”

Womit er bei seinem Heimatland Ungarn war: “Bis zum Jahre 2004, als Ungarn mit einigen anderen Reformländern in der ersten Runde seine Aufnahme erreicht hatte, erfüllte das Land die dazugehörende Agenda, akzeptierte die Anpassung von mehreren hundert Gesetzen und war auch innerlich auf diesen historischen Akt vorbereitet. Alles, was danach geschah und seit einigen Jahren für unangenehme Schlagzeilen in den internationalen Medien sorgte, kam nur für diejenigen überraschend, die unsere Geschichte nicht von innen erlebt haben.

Hinter der äußerlich erfolgreichen Entwicklung der neunziger Jahre entfaltete sich ein recht dramatischer Prozess. Als die ehemaligen Menschenrechtler, beeindruckt von dem überzeugenden Wahlsieg der Postkommunisten 1994, deren großzügigem Koalitionsangebot nicht widerstehen konnten, spaltete sich die politische Szene endgültig. Die ursprünglich liberale Jugendpartei Fidesz scharte um sich die Wähler der abgewirtschafteten Konservativen und profilierte sich als eine national gefärbte Rechte, wodurch ihre Gegner sich automatisch als Linke definierten. 1998, vier Jahre später, wurde die linksliberale Koalition trotz ihrer wirtschaftlichen Erfolge knapp abgelöst, und die nunmehr als Bürgerliche Partei avisierte Fidesz bildete eine Regierung mit Viktor Orban an der Spitze.

Diese wiederum wurde 2002 von den Wählerinnen und Wählern mit einer minimalen Mehrheit gestürzt, und nun folgten acht Jahre Regierungszeit wiederum der Linksliberalen. All dies hätte eine normale Wechselwirtschaft abgeben können – aber nichts dergleichen! Die einander bekämpfenden Seiten betrachteten jeden Wahlkampf als einen Krieg auf Leben und Tod und trachteten danach, die einmal gewonnene Macht möglichst nicht mehr aus der Hand zu geben. So entstand in der Republik statt einer normalen politischen Auseinandersetzung eine giftige und hysterische Hasskultur.”

Die natürlich gerade deshalb gedeiht, weil die regierende Fidesz nicht den Mut aufbringt, mit der marginalisierten Opposition zu sprechen. “Unter diesen Bedingungen empfinde ich die Haltung einer Regierung als geradezu absurd, die sich im dritten Jahr ihrer Amtszeit mit den Vertretern der demokratischen Opposition nicht einmal zu einer Tasse Kaffee zusammenfinden will”, sagte Dalos. Und appellierte an Merkel und Orban, genau darüber am Donnerstag, 11. Oktober, bei ihrem anberaumten Spitzengespräch zu sprechen. Denn die Leerräume, die die Demokraten schaffen, indem sie nicht miteinander reden, den nutzen auch in Ungarn die Nationalisten.

Und auch das Verhältnis zur EU ist für ihn ein Maßstab, wie weit eine Regierung die Demokratie ernst nehme. Dalos: “Die Ratlosigkeit der Bürger ist der größte Risikofaktor für die europäischen Demokratien. Es lohnt sich, die osteuropäischen Errungenschaften des Jahres 1989 sowohl vor den autoritären Versuchungen als auch gegenüber rechtsradikalem Abenteurertum zu schützen.”
Die gesamte “Rede zur Demokratie” von György Dalos als PDF zum download.

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