Nötig seien Versorgungsformen, in denen alle Betroffenen am Ort ihrer Wahl sterben können, sagt Lysann Kasprick, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Palliativnetzwerk für Leipzig und Umgebung, im L-IZ-Interview. In der Vorwoche ging das Netzwerk in Nimbschen auf einem Fachtag der Frage "Sterben zu Hause - Wunsch oder Wirklichkeit?" nach.

Die Stammzellenforschung vermeldet neue bahnbrechende Erkenntnisse und räumt dafür den Nobelpreis ab. Wünschten Sie sich für die Palliativmedizin auch ein solches Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit?

Es ist zwar nicht der Nobelpreis, die Aufmerksamkeit des Patientenverfügungsgesetzes von 2009 war und ist doch sehr beachtlich. Die rechtliche Akzeptanz, dass der Patient über sein Leben entscheidet, ist gerade in Deutschland eine wichtige Wendung.

Dieser Paradigmenwechsel führte zu einer höheren Akzeptanz dem Wunsch des Patienten nachzukommen. Es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Nichtsdestotrotz stehen wir vor einem Dilemma zwischen immer fortschreitender Medizin, der damit verbundenen steigenden Lebenserwartung und dem Widerspruch der Lebensqualität der schwerstkranken Patienten. Hier gilt es in Zukunft noch mehr, Ethikräte in den Kliniken und allen anderen Versorgungsbereiche verstärkt zu nutzen, wenn sie vorhanden sind und wenn nicht, zu etablieren. Wir brauchen keinen Nobelpreis, sondern eine Kultur der Familie und des Sterbens. Diese ist uns seit Jahrzehnten abhanden gekommen.

Können Sie das bitte näher erläutern?

Die gesellschaftliche Entwicklung führt uns immer mehr von den existenziellen Werten – einem Zuhause – weg. Damit rückt ein Versterben zu Hause auch immer weiter weg, und es bleibt wohl eher ein Wunsch statt Wirklichkeit.

Einmal abgesehen von Fachkreisen, erhält der Nobelpreis in der Öffentlichkeit einmal jährlich große Aufmerksamkeit, nämlich wenn die Preisträger bekannt gegeben werden. Dies wäre aus unserer Sicht – bezogen auf die Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen – zu wenig. Der Aufmerksamkeit und der Sorge um diese Menschen und ihre Familien bedarf es jedoch zu jeder Zeit, denn Sterben und Tod warten nicht auf Preisverleihungen.

Worauf käme es denn dann aus Ihrer Sicht an?

Wichtig ist auch noch etwas anderes: die Palliativmedizin, nach der hier gefragt wurde, ist ein Teil der Palliativversorgung oder wie häufig gesagt wird, von Palliative Care. Die Besonderheit und auch die Wirksamkeit der Palliativversorgung zeichnen sich aber durch das Zusammenwirken mehrerer Professionen und der Koordination der Aufgaben in der Begleitung am Lebensende aus. Neben der palliativ-medizinischen Versorgung ist die palliativ-pflegerische zu nennen, die psychosoziale und spirituelle Begleitung.

Alles in Allem geht es vordergründig jedoch weniger um die Akteure in den Versorgungsprozessen, sondern vielmehr um die von schwerster Erkrankung und Tod bedrohten Menschen und ihrer Familien; für sie wünschen wir uns ganz viel – auch gesellschaftliche – Aufmerksamkeit.
Vor welchen Herausforderungen steht aus Ihrer Sicht die Palliativmedizin?

Wir haben auch in Deutschland ein immer größer werdendes Versorgungsproblem. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass hier jährlich circa 840.000 Menschen sterben und vom Tod eines Menschen etwa jeweils 10 weitere in Familien, Nachbarschaft und/oder Freundschaft betroffen sind, heißt das: circa 10 Prozent der deutschen Bevölkerung kommt jährlich direkt oder indirekt mit Sterben und Tod in Berührung.

Wenngleich auch nicht alle einer Palliativversorgung bedürfen, bleibt doch die Notwendigkeit der Sorge um die Betroffenen, zumal wenn der Wunsch besteht, zu Hause sterben zu wollen. Neben einer spezialisierten palliativmedizinischen und palliativpflegerischen Versorgung, braucht es vor allem ein Sorgenetzwerk, das die mit Sterben und Tod einhergehenden psychischen, sozialen und spirituellen Probleme auffangen und tragen hilft. Vor allem dort, wo familiale Netzwerke nicht oder nur in sehr begrenztem Maße zur Verfügung stehen, was – aufgrund der demografischen Entwicklungen – in Zukunft immer seltener der Fall sein wird.

Hier bedarf es eines neuen gesellschaftlichen Verständnisses, weil wir uns in einem Feld bewegen, das politisch nicht geordnet werden kann, sondern von der Mitmenschlichkeit und Sorgebereitschaft jedes Einzelnen abhängig ist.

Welchen Beitrag leistet dabei die “Arbeitsgemeinschaft Palliativnetzwerk für Leipzig und Umgebung e. V.”?

Die Arbeitsgemeinschaft für Leipzig und Umgebung e.V. sorgt im Landkreis Leipzig für eine flächendeckende Vernetzung aller Versorgungsbereiche von Palliative Care. Ob für den allgemeinen ambulanten Palliativdienst oder für den spezialisierten, die Versorger kennen sich und sprechen miteinander und tauschen sich fachlich aus.

Ziel des Vereins ist es, ein Sterben zu Hause zu ermöglichen. Denn diesem wohl gehegten Wunsch von 80 Prozent der Deutschen erfüllt sich nur für knapp 30 Prozent der Sterbenden. Es herrscht in Deutschland ein institutionelles Sterben, 70 Prozent der Menschen versterben nach wie vor in einem Krankenhaus oder einem Pflegeheim – aber und eben nicht zu Hause.
Was wäre auch Ihrer Sicht zu tun?

Um diesem Wunsch Rechnung tragen zu können, ist eine verlässliche Versorgungsstruktur erforderlich. Der Verein hat sich in den letzten vier Jahren sehr stark für die Palliative Care Ausbildung eingesetzt. Nun stehen den Betroffenen und ihren Familien im Landkreis 43 Palliative Care Kräfte und 13 Palliativmediziner zur Verfügung.

Die Besonderheiten des Netzwerks sind die Regionalteams vor Ort, welche in Krisensituationen mit einem nur kurzen Anfahrtsweg schnell bei den Betroffenen sein können. Die Einwohner des Landkreis Leipzig können aus diesem Grund auf eine qualitativ hochwertige Versorgung durch die regional verankerten Palliative-Care-Teams zurückgreifen. Die Versorgung schwerkranker und sterbender Menschen in Strukturen eines Netzwerkes ist in Sachsen bisher einmalig.

Der Fachtag 2012 des regionalen Palliativnetzwerkes widmete sich dem Thema “Sterben zu Hause – Wunsch oder Wirklichkeit?”. Wie beantworten Fachwissenschaft und Praktiker diese essentielle Frage?

Die oben genannten Zahlen zeigen unzweideutig: Bisher ist es mehr Wunsch als Realität. Die Frage ist an dieser Stelle, wie und auf welche Weise es gelingen kann, den Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen. Regionale und/oder nationale Lösungen werden auf Dauer keine befriedigenden Antworten geben können, was wiederum demografisch begründet ist.

Hier hat Professor Andreas Heller von der Universität Wien/Klagenfurt/Graz sehr klar herausgestellt, dass auch der oftmals favorisierte Ansatz, Pflegekräfte aus Osteuropa, Asien oder Nordafrika zu importieren, auf Dauer nicht helfen wird. Zumal ja auch die Frage steht, wer dann die in diesen Ländern zurückgebliebenen Alten und sterbenden Menschen pflegt.

Dass die meisten Menschen heute institutionalisiert sterben, hat vielerlei Gründe. So scheinen zum Beispiel Krankenhäuser eine höhere Sicherheit zu versprechen, oder Angehörige fühlen sich mit der Begleitung des Sterbenden überfordert.

Welchen Weg empfahl der Experte?

Aber genau darum geht es: Wir brauchen Versorgungsformen, mit denen es gelingt, allen Betroffenen das Gefühl zu vermitteln, am Ort ihrer Wahl sterben zu können. Das kann die bisherige Wohnung genauso sein wie beispielsweise ein Pflegeheim, in dem die/der Sterbende in den letzten Jahren gelebt hat und das ihr/sein Zuhause geworden ist.

Wahrscheinlich ist es nicht richtig, “Zuhause” an bestimmte Räume oder Räumlichkeiten zu binden, vielmehr scheint es eine “Herzenssache”. Hermann Hesse hat in einem Reisebericht beschrieben, dass Heimat keine regionale Gebundenheit besitzt, man Heimat vielmehr im Herzen trägt, sonst gibt es sie nicht. Das lässt sich hier übertragen.

Das heißt aber auf der anderen Seite gleichzeitig, dass es entsprechender Versorgungsstrukturen bedarf, die wiederum nur dann gestaltet werden können, wenn die Menschen insgesamt dazu bereit sind, sich Sterbender und ihrer Familien sorgend anzunehmen. Dann können wir dem Wunsch der meisten Menschen, zu Hause zu sterben, wahrscheinlich ein Stück näher kommen. Aufgabe des Palliativnetzwerkes ist es, hier zu unterstützen und zwar auf allen angesprochenen Ebenen.

Welche weiteren Anstöße gab der Fachtag aus Ihrer Sicht?

Der Fachtag hat gezeigt, dass die Entscheidung der Versorgung in Netzwerkstrukturen die richtige Antwort auf die vielfältigen und komplexen Herausforderungen der Palliativversorgung zu sein scheint. Netzwerke sind stärker in der Lage, auf Versorgungsprobleme des Einzelfalls zu reagieren und sowohl adäquate als auch qualitative Lösungsansätze zu verfolgen.

Ferner ist deutlich geworden, dass die palliativmedizinische Versorgung, aufgrund ihrer Entwicklung in den letzten Jahren, sehr gut in der Lage ist, die körperlichen Symptome am Lebensende medizinisch zu behandeln. Daneben ist ebenfalls herausgearbeitet worden, dass somatische Symptome häufig nicht oder – durch adäquate palliativmedizinische Behandlung – nicht mehr im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr Wertevorstellungen und Sinnerfahrungen.

Hier ist es Aufgabe der Palliativversorgung Wünsche, Hoffnungen, Erwartungen schwerstkranker und sterbender Menschen und ihre Erfahrungen im Angesicht des Todes nicht in einer Diskrepanz zueinander, also unbeantwortet zu lassen. Nur dann scheint es möglich, subjektive Lebensqualität erleben zu können, die von außen weder zu organisieren, noch erlebbar zu machen ist.

Vielen Dank für das Gespräch.

www.palliativnetzwerk-leipzig.de

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