Eine Urkunde begründet alles: die Gründungsurkunde für das Augustiner Chorherrenstift, die Kaiser Otto IV. am 20. März 1212 auf dem Frankfurter Reichstag besiegelt. Hier begann alles: der Bau des Klosters, die Gründung von Chor, Schule und Hospital. Auch wenn sich der eigentlich Beginn jeder einzelnen Institution im Dunkel der nicht aktenkundigen Geschichte verliert. Ohne Beamte gäbe es in Leipzig 2012 nichts zu feiern. Auch keine 800-jährige Schule.

Der Thomanerchor und das Krankenhaus St. Georg haben ihre Festwochen schon gefeiert. Drei Viertel des Festjahres sind herum. Kulturbürgermeister Michael Faber ist sich ziemlich sicher, dass insbesondere die Festwoche des Thomanerchors im März kräftig mit dazu beigetragen hat, die Touristenzahlen in Leipzig noch einmal zu erhöhen.

Am Freitag, 7. September, verrieten nun Schule, Chor und Stadt, wie die Thomasschule ihre Festwoche zu feiern gedenkt. Sie holen sich dabei den Ältesten aller Bewohner des wohl um 1220 eröffneten Klosters zu Hilfe: Heinrich von Morungen, den berühmten Minnesänger, der wohl schon 1213, im Alter von ungefähr 63 Jahren, in den Chorherrenstift eintrat und seine letzten Lebensjahre in Leipzig verbrachte. Er ist der Held des von den Thomasschülerinnen und -schülern einstudierten Historischen Musiktheaters “Morungen”, das am Dienstag, 18. September, um 19:30 Uhr in der Lutherkirche am Johanna-Park Premiere hat. Idee: Frank-Harro Schorcht. Das Drehbruch schrieb ein Profi: der Schriftsteller Wilhelm Bartsch. Auch für die Regie hat man sich mit Ralf Meyer einen Profi geholt. “Aber ansonsten”, so sagt Kathleen Kormann, die Direktorin der Thomasschule, “haben die Schüler alles selbst gemacht und einstudiert.”

Begonnen haben sie damit noch zum Ende des vergangenen Schuljahres. “Jetzt haben die Proben wieder begonnen”, sagt Michael Rietz, Musiklehrer an der Thomasschule und für die künstlerische Leitung der Festwoche zuständig. Welcher Organisationsaufwand dahinter steht, will sein Lehrerkollege Michael Holz gar nicht erst verraten. “Wir haben das – wie Sie verstehen werden – alles noch zusätzlich zum schulischen Betrieb gemacht”, sagt er zur anberaumten Pressekonferenz. Über das Was und Wie und Wieviel will er gar nichts sagen. Das sei auch nicht so wichtig.

Wichtig ist, was zu erleben sein wird. Und die Leipziger können was erleben. Am Montag, 17. September, geht es los mit der Festveranstaltung in der Thomasschule, wo die Thomasschüler die Sächsische Kultusministerin Brunhild Kurth, OBM Burkhard Jung und – als Gastredner – den durch sein Papstbild berühmten – Maler Michael Triegel zu Gast haben. Geschlossene Veranstaltung. Die Schule würde aus den Nähten platzen, wenn das öffentlich wäre.
Für die Öffentlichkeit geht’s am Dienstag, 18. September los. Um 11 Uhr im Museum der Bildenden Künste mit dem Podiumsgespräch “Klassische Bildung in der Spaßgesellschaft”. Das wird spannend, schon allein, weil Sachsens ehemaliger Ministerpräsident Kurt Biedenkopf mit Prof. Stefan Kipf und der HTWK-Rektorin Renate Lieckfeldt diskutiert.

Am Dienstagabend um 19:30 Uhr ist die “Morungen-Premiere in der Lutherkirche. Gute Nachricht für alle, die nicht dabei sein können: Eine zweite Aufführung ist jetzt für den 25. September 18 Uhr im Festsaal des Neuen Rathauses angesetzt.

Öffentlich ist natürlich das, was am Donnerstag, 20. September, geplant ist: Um 12 Uhr werden die Thomasschüler den Marktplatz in Beschlag nehmen und eine riesengroße “800” stellen. Vorher werden sie in einem “Festumzug” zum Marktplatz spazieren. Gleichzeitig wird im Bachmuseum die Ausstellung “Die Träume des Herrn Bach” eröffnet. Und ab 13 Uhr wird sich die Moritzbastei in den “Markt der Jahrhunderte” verwandeln. Bis 16 Uhr kann man da ein bisschen Geschichte erleben.

Öffentlich ist natürlich auch am 22. September um 15 Uhr die Festmotette in der Thomaskirche, wo man gleich zwei Chöre aus der Thomasschule erleben kann: den Thomanerchor natürlich – und den ThomasSchulChor, der sich mittlerweile auch traut, in der Thomaskirche a cappella zu singen. “Und dort hängt, wie man weiß, die Latte hoch”, sagt Thomaspfarrer Christian Wolff. Dass der Schulchor mittlerweile diese Qualität hat, ist natürlich der Arbeit von Michael Rietz, Musiklehrer und selbst ehemaliger Thomaner, zu verdanken. Im Grunde braucht man in einer Festwoche der Thomasschule nicht wirklich über Klassische Bildung versus Spaßgesellschaft zu diskutieren. Alles, was hier ernsthaft angepackt wird, zeigt, dass die zur “Thomana” beschworene Trias “Glauben, Singen, Lernen” Grundlage ist für alle Ernsthaftigkeit.

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Nicht dogmatisch. Das lässt Kathleen Kormann anklingen, wenn sie sagt, dass den Schülern für alle drei Dinge “die Türen geöffnet werden sollen”. Ein schönes Bild. Denn es hat mit Barrierefreiheit zu tun: Wer keine Chance bekommt, sich intensiv zu bilden und seine musikalischen Fähigkeiten zu erkunden, der bekommt zu diesen Welten nie im Leben Zugang.

Der bleibt nicht nur ausgeschlossen, der wird auch – ohne es zu wollen – zum “Problemfall” für die Gesellschaft, weil das Wissen um die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten Voraussetzung ist für Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung. Und das hat mit “Spaßgesellschaft”, die so gern suggeriert, alles sei leicht, leicht zu haben und jederzeit käuflich, eben nichts zu tun. Bleibt der Glaube, den man nicht wirklich lernen kann, der für manchen ein Geschenk ist und für manch anderen ein ermutigendes Wertesystem, für manchen auch der Spiegel dessen, was die Gesellschaft, in der wir leben, überhaupt erst human und aushaltbar macht. Und dem Großen, was in Manchem schlummert, Bilder und Inhalte gibt – wenn man nur einmal an Johann Sebastian Bach denkt.

Für Michael Faber, der sich auf all seinen Reisen durch Europa jedes Mal freut, wenn er mal in der Zeitung, mal in einem Flughafen über Leipziger Botschaften zur “Thomana” stolpert, ist es wichtig in diesem “Thomana”-Jahr, dass die Einheit von Thomaskirche, Thomasschule und Thomanerchor tief im Selbstverständnis der Leipziger verankert ist. Noch tiefer verankert ist. Das sei, sagt er, durchaus mit jedem Generationenwechsel gefährdet, Traditionen drohten abzureißen. “Aber ich glaube, mit diesem Thomana-Jahr ist es uns gelungen, diese Einrichtungen wieder tief in der Stadt zu verankern.”

Zumindest zeigt das Festjahr recht deutlich, wie eng verbunden Leipzig mit seiner Stadtkirche, seiner Thomasschule und seinem Knabenchor ist. Sie sind ein Stück der Seele dieser Stadt, immer wieder verwundet, oft ausgeblendet oder überschwappt mit dem bunten Lärm der Spaßgesellschaft.

www.thomana2012.de
www.thomasschule.de

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