Die Mark Neblitz ist eigentlich der nordöstlichste Punkt der Stadt. Doch Neblitz ist eben nichts weiter als eine Mark. Deswegen startet die Stadttour um 7:15 Uhr in der Frühe in Gottscheina mit Aussicht auf einen Aufenthalt in Merkwitz. Laufende Menschen waren nicht gesehen, dafür umso mehr Autos und ein Ankündigungsplakat der besonderen Art.
So sieht also Gottscheina aus. Ein Rundling allererster Güte, ein Dorf mit nur einem Eingang, der auch Ausgang ist. Und von diesem Ein-/Ausgang wird 7:15 Uhr an diesem Donnerstagmorgen reichlich Gebrauch gemacht. Im Nord-Nordosten von Leipzig rollen die Autos. Wo sie wohl hinfahren? Einige sicherlich zum benachbarten BMW-Werk, andere möglicherweise nach Taucha. Gottscheina passieren sie jedenfalls, denn hier gibt es zwar viele alte, allem Anschein nach gemütliche Häuser, aber keine Arbeitsplätze in Größenordnung.
Am Dorfteich ist es ruhig, kein Mensch weit und breit. In einem Haus steht wenigstens das Fenster sperrangelweit offen. Ob sich hier jemand ohne Sicherheitsvorkehrungen gemütlich umzieht, weil eh niemand zu erwarten ist? Ich schaue nicht nach, sondern drehe mich weg. Der Chefredakteur hatte mir zwar aufgetragen, “immer schön neugierig zu sein”, aber soviel Neugierde würde dann wohl doch zu weit gehen. So gern ich das kleine Gottscheina und seine Einwohner weiter erkunden wollen würde, mein Ziel heißt Knautnaundorf und dort will ich allerspätestens 19 Uhr sein.Am westlichen Rand von Gottscheina verläuft eine Straße in Nord-Süd-Richtung, führt aber aus Leipzig heraus. Doch diese asphaltierte Huckelpiste ist für meine Zwecke die richtige, auch wenn ich mit dem Dorf Merkwitz Hoheitsgebiet der Stadt Taucha betreten werde. Immerhin besser als minutenlang um das BMW-Werk zu laufen, was sich westlich von mir aufbaut. Doch viel sehe ich davon nicht. Nebel hat sich über die Felder rund um Gottscheina gelegt. Das Nachbardorf im Westen, Hohenheida, ist ebenfalls nicht zu sehen. Bei 18,5 Grad Celsius ist es wenigstens nicht zu kalt für eine solche Unternehmung.Auf der Straße zwischen Gottscheina und Merkwitz gibt es keinen Fußweg. Zu aberwitzig erscheint wahrscheinlich heutzutage die Idee, dass diese Strecke jemand laufen will. Die 2,2 Kilometer zwischen den beiden Orten schlurfe ich die meiste Zeit im nassen Gras. Auf der Straße zu laufen, die gewiss keine vielbefahrene Straße ist, ist zu gefährlich. Ein Tempolimit kennt man hier offensichtlich nur aus Erzählungen. An zwei Bushaltestellen hätte ich die Möglichkeit gehabt abzukürzen, aber nichts da. Es steht dort auch niemand, der auf den ÖPNV wartet, der fast leer an mir vorbeituckert. Wo sollen die Fahrgäste auch herkommen?
Auf der Straße begegnet mir erwartungsgemäß kein Mensch. Wäre auch zu schön gewesen. Wie gern hätte ich gefragt: “Was machst’n du hier?” Stattdessen schleiche ich mich fast schon unbemerkt hinein nach Merkwitz, was sich letztlich als größer als gedacht entpuppt. Ist der Briefkasten zunächst eine Sensation, so ist er am Ende eigentlich eine logische Konsequenz, denn Merkwitz hat immerhin ein Autohaus, einen großen Betrieb am Ortsrand und einen verfallenen Gasthof, an dessen ehemaligen Fenstern ausgerechnet ein Hinweisschild auf ein “Hotel Residenz” klebt.Als ich den Gasthof erreiche, habe ich das erste Gespräch auf meiner Reise hinter mir. Ein Lkw-Fahrer fragte ausgerechnet mich, ob ich aus Merkwitz sei. “Nein natürlich nicht, aber ich habe einen Stadtplan.” Schon auf die richtige Seite gefaltet, hole ich das gute Stück aus der Hosentasche meiner Wanderhose, während der Lkw-Fahrer selbstbewusst die Hauptstraße blockiert. Die ausgebremsten Autofahrer beweisen allerdings Geduld, lassen mich in Ruhe den Thomas-Müntzer-Weg zeigen, der – nebenbei erwähnt – direkt um die Ecke war.
Vom Gasthof trotte ich anschließend über die Alte Salzstraße in Richtung Plaußig. Kurz bevor ich den Ort verlasse, fällt mir ein verkommenes Haus am Straßenrand ins Auge. Direkt neben einem Neubau ist sein überschrittenes Verfallsdatum unübersehbar.Über dem Hintereingang ist noch eine lateinische Inschrift zu erkennen, davor steht eine alte Küchenzeile, die wohl zuletzt jemand zumindest versucht hat anzuzünden. Ein Glück, dass die Freiwillige Feuerwehr direkt gegenüber stationiert ist. Was ist dieses alte Haus einmal gewesen? Ein Alterssitz eines Universitätsprofessors? Merkwitz, Gottscheina und Hohenheida waren vier Jahrhunderte im Besitz der Universität. Bei Wikipedia ist ein Bild des Hauses zu sehen, es ist mit “Herrenhaus des Gutes Merkwitz” unterschrieben. Könnte hinkommen.
Die lateinische Inschrift über der Tür: “Ille terrarum mihi praeter omnes angelus ridet”. Die stammt aus einer Ode von Horaz und es heißt übersetzt ungefähr: “Jeder Winkel lächelt mir vor allen anderen auf Erden zu …” – Hier hat sich also jemand wohlgefühlt. Dereinst.
Direkt am Ortseingang/-ausgang hat sich die Begegnungsstätte “Merkwitzer Stübchen” niedergelassen. Die Baracke ist kurz vor 8 Uhr noch verschlossen, ein Plakat kündigt wenigstens den nächsten Höhepunkt an. Am Wochenende wird Merkwitz zum Morgenland, denn das Dorffest soll unter dem gewagten Motto “Der Orient in Merkwitz stehen”. Kameltreiben, Hennamalerei, Bauchtanz und orientalisches Markttreiben sollen das Fest zu einem unvergesslichen Erlebnis machen.
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Wer Samstagnacht mit dickem Schädel ins Bett geht, braucht sich auch keine Sorgen ums Verschlafen machen. Der Weckruf des Muezzins wird ihn schon vom Kissen fallen lassen. Nur leider ziehen es die Organisatoren nicht durch, denn nachdem der Muezzin die Dorfbewohner aus ihrem Haus gekehrt hat, ruft der Pfarrer zum Gottesdienst. Dabei leben Christen in manchen Regionen des Orients durchaus gefährlich. Egal, spätestens beim unvermeidlichen Frühschoppen werden alle Probleme vergessen sein.
Mein nächstes Problem ist die Landstraße nach Plaußig. Wieder gibt es keinen Fußweg und nur nasses Gras. Doch plötzlich ist es mit der Wanderung beinahe vorbei …
Morgen geht’s weiter. Genau an dieser Stelle.
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