Mit der umfassenden Studie "Das Ende. Kampf bis in den Untergang" hat der britische Historiker Ian Kershaw nicht nur eine Forschungslücke über die Deutschen im letzten Kriegsjahr 1944/1945 geschlossen. Das auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse preisgekrönte Buch stellt für Kershaw auch den Abschluss seiner NS-Forschungen dar.
Mister Kershaw, Sie sind als Historiker bekannt, der sich intensiv mit dem Dritten Reich beschäftigt. Warum haben Sie nun ausgerechnet das Ende des Reiches als Thema gewählt?
Ich fand es bei meinen bisherigen Forschungen bemerkenswert, dass es zu diesem Thema noch kein einziges Buch gab. Kein Werk, das danach fragte, warum Deutschland bis zum Ende kämpfte. Die Wissenschaft konzentrierte sich bisher immer auf die Geschehnisse im Führerbunker, aber niemand auf die sozialen und politischen Bedingungen in der letzten Kriegsphase. Ich habe das bereits in der Hitler-Biografie bemerkt, aber da musste ich den Fokus auf Hitler legen. Ein Zufall hat dann mein Interesse erneut geweckt. Bei einem Besuch in einer Bamberger Kirche las ich von einem jungen Mann, der vier Stunden vor dem Einmarsch der Amerikaner sein Leben verlor. Ein total sinnloser Tod. Das war der entscheidende Impuls für mich, die Arbeit zu beginnen.
In Ihrem Buch “Das Ende” analysieren Sie, warum die Deutschen 1944/1945 bis in den Untergang kämpfen. Waren die Deutschen nun eher “Hitlers willige Vollstrecker”, wie es der Amerikaner Daniel Goldhagen mal formulierte, oder waren sie durch den SS-Terror zum Mitmachen gezwungen?
Nein, der SS-Terror machte ihnen diesbezüglich keine Angst. Das zu behaupten, würde zu weit führen. Wenn man über die Machtelite spricht, würde der Terror nicht alles erklären. Kein General, der nach dem Hitler-Attentat 1944 Hitler die Gefolgschaft versagte, wurde hingerichtet. Diese Generäle wurden nur entlassen.
Eher sollte man fragen, warum sie ihren Dienst weiter verrichteten. Willige Vollstrecker waren die Generäle nicht, sie haben es als ihre Pflicht gesehen, das Reich zu verteidigen. Ihre ideologischen Überlegungen, also ihr Antibolschewismus, ihr Nationalismus und oft ihr Antisemitismus waren eine wichtige Motivationshilfe dabei. Durch diese Reichsverteidigung haben sie gleichzeitig auch das Regime unterstützt. So waren sie also loyale Unterstützer für Hitler.
Also spielte Hitler keine große Rolle beim Kampf der Deutschen gegen die Niederlage?
Nein, für die Generäle nicht. Natürlich waren viele von ihnen stramme Nazis, aber die Reichsverteidigung war für sie wichtiger. Es war natürlich auch die Angst davor, was mit dem Reich nach einer Niederlage passieren wird. Sie wussten, dass Deutschland schlimme Dinge in diesem Krieg angerichtet hatte. Sie hatten deshalb nicht nur große Angst vor den Sowjets, die übrigens berechtigt war, sondern auch vor den Westalliierten. Man sagte, die USA würde von Juden geführt, die Rache nehmen würden.
Obwohl jeder ein schnelles Ende des Kriegs haben wollte, wollte eigentlich auch kaum einer ein besetztes Deutschland. Also kämpfte man eigentlich nicht vorrangig für Hitler, aber indirekt schon. Viele wussten, dass sie keine Gnade erwarten konnten, wenn sie in die Hände der Roten Armee fallen würden. Die Angst im Westen war übrigens größer als man dachte. Wir wissen mittlerweile, dass die Amerikaner und die Briten sich gut benahmen, aber das konnte man vorher nicht ahnen.
Warum gab es nach Ihrer Einschätzung nach dem 20. Juli 1944 keine Gegenelite, die den “Kampf bis in den Untergang” durch einen erneuten Aufstandsversuch beendete?
Erstens hat jeder gesehen, was passieren würde, wenn es scheitern würde. Zweitens war die Organisation viel schwieriger, die Sicherheit Hitlers wurde noch einmal enorm verstärkt. Drittens waren nach dem gescheiterten Attentat nur noch loyale Nazis in den wichtigen Positionen in der Armee. Als eine der ersten Dinge nach dem 20. Juli erhielt Heinrich Himmler das Kommando über das Ersatzheer, von dort wurde das Stauffenberg-Attentat geplant. Die Armee war damit neutralisiert, wer sollte es sonst machen? Es musste organisiert werden, man musste Angst haben, vorher erwischt zu werden, die Kommunikation war durch die Fragmentierung der Machtelite schwierig.
Schauen Sie mal kurz auf Italien: Dort ist man Mussolini 1943 durch einen Mehrheitsbeschluss des Großen Faschistischen Rats losgeworden. So ein Gremium gab es in Nazi-Deutschland nicht. Hitler war das Staatsoberhaupt, das Parteioberhaupt und der Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Im Juli 1944 war es schon schwer genug, danach brauchte man noch mehr Willen, um all diese Schwierigkeiten zu umgehen, aber den hatte niemand.
In Ihrem Buch räumen Sie der Bombardierung Dresdens einen breiten Raum ein. Welchen Stellenwert hat der 13. Februar für die Endphase des Krieges und späterhin im kollektiven Gedächtnis Großbritanniens und Deutschlands?
Für das kollektive Gedächtnis ist es in beiden Ländern sehr wichtig. Dresden ist in Deutschland und Großbritannien ein Symbol für den Bombenkrieg. Seit der Wende gibt es gegenseitige Besuche von Deutschen und Engländern, vornehmlich Geistlichen, die nach Coventry beziehungsweise Dresden kommen, wobei Coventry im Gegensatz zu Dresden ein “Kinderspiel” war. Aus meiner Sicht hatte die Bombardierung Dresdens auf die letzte Phase des Krieges nur einen sehr kleinen Effekt.
Joseph Göbbels wollte über diese Bombardierung noch einmal den Kampfgeist wecken und propagierte, dass so etwas mit Deutschland passieren wird, wenn es aufgibt. Die Bombardierung hatte aber genau den anderen Effekt erreicht, die Leute sagten sich: “Soweit sind wir nun schon gekommen, dass die Alliierten so etwas mit uns machen können.” Sie sehnten also eher schneller das Kriegsende herbei, das dieses Sterben und Leiden beendet. Aber: In dieser Phase waren die Bombardierungen von Dresden, Pforzheim und Würzburg vollkommen sinnlos, sie haben das Kriegsende nicht beschleunigt. Es stand sowieso schon bevor. Es war nur noch eine Frage von Wochen.
Sie beschreiben die Effizienz der Aufräumarbeiten und der Versorgung der Bevölkerung Dresdens nach der Bombardierung. Wie erklären Sie sich das?
Das war wirklich sehr bemerkenswert. Es war einfach eine sehr gut ausgebildete, abgestimmte Bürokratie, die das organisierte. Wäre Deutschland nicht so modern gewesen, wäre es chaotisch geworden. Die deutsche Organisation funktionierte aber trotz allem. Die Bürokratie hat damals genauso viele Tote gezählt, wie die deutsche Historiker-Kommission bei ihren Recherchen vor ein paar Jahren. Das sagt alles.
Ist das Buch “Das Ende” auch das Ende Ihrer Forschungen zum Dritten Reich?
Ja, ist es. Das ist ein weiterer Grund, warum ich den Titel mag, weil er auch für mich einen Abschluss bedeutet. Ich habe die Forschungen zum Dritten Reich viele Jahre gemacht und alle Fragen beantwortet, die ich beantworten wollte. Ich denke, es gibt nur eine gewisse Zeitspanne, in der man sich mit einer Periode beschäftigen kann. Nun muss ich mal etwas anderes machen, auch wenn die Arbeit viel Spaß gemacht hat. Wenn ich nun etwas Zeit habe, werde ich ein Überblickswerk zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert schreiben. Das Dritte Reich, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust werden darin natürlich auch eine Rolle spielen. Ich freue mich allerdings nach der detaillierten Forschung auf ein großes “Panorama”-Werk. Nachdem ich das Glück hatte, mich mit der spannenden ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beschäftigen, werde ich nun auch zur langweiligen zweiten Hälfte forschen (lacht).
Aber wenn man auf die deutsche Geschichte schaut, wird es auch in der zweiten Hälfte nicht langweilig …
Das stimmt. Langweilig ist das falsche Wort, aber es ist Gott sei Dank eine ganz andere Form von Spannung. Als ich meinen Studenten sagte: “Ok, wir haben über die Weimarer Republik geredet, über das Dritte Reich, den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg, nun reden wir über die Bundesrepublik”, haben mich die ersten jedoch gelangweilt angesehen.
In den letzten Jahren war von Historikern nicht selten zu hören, dass es zum Dritten Reich eigentlich fast nichts mehr zu erforschen gäbe. Fällt Ihnen spontan noch eine Lücke ein?
Spontan nicht, aber vor drei Jahren habe ich auch noch nicht an “Das Ende” gedacht. Derzeit gibt es die Diskussionen über die Volksgemeinschaft, die sind auch erst vor kurzer Zeit aufgekommen. Es ist letztendlich so, dass neue Generationen neue Fragen aufwerfen und neue Perspektiven entwickeln und dann gibt es wieder neue Aspekte. Es geht eher weniger um Zeitabschnitte, sondern um neue Fragen, die beantwortet werden wollen.
Für das Buch erhielt der 2008 emeritierte Historiker – gemeinsam mit seinem amerikanischen Kollegen Timothy Snyder – den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2012.
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