Während aller Nase lang ein neues Ranking aus diversen Meinungsschmieden der Nation die Journalisten beglückt und für fette Schlagzeilen sorgt, legt die Stadt Leipzig zumeist recht ruhig und gewissenhaft immer wieder Studien vor, die wesentlich fundierter und realistischer sind. Und Erstaunliches zu Tage fördern. Etwa über die jungen Wilden.

Denn wild ist Jugend ja, chaotisch sowieso. Den einen begegnet sie als Komasäufer, den anderen als Randalierer, Zappelphilipp oder Computerspieler, als Ruhestörer oder nichtausbildungsfähiger Auszubildender. Der Stereotype gibt es genug. Sie treffen nie wirklich zu, markieren bestenfalls eine kleine Gruppe. Und sie beantworten niemals die Frage: Warum ist das so?

Die Antwort könnte ärgerlich sein. Auch für eine ganze Reihe gut beanzugter Politiker, die sich jetzt wieder feiern für ihre geniale Verschärfung der Zugangsbedingungen fürs Gymnasium. Man kann Probleme auch mit den falschen Lösungen verschärfen. Und trotzdem glauben, alles sei gut.

Das Wichtigste eigentlich, was die neueste Untersuchung des Leipziger Amtes für Jugend, Familie und Sport und des Amtes für Statistik und Wahlen zu Tage förderte, ist eine alte Erkenntnis. Eine uralte sogar, die im Jahr 2012 so frisch und verstörend wirkt wie anno 1848: Über die Karrieren junger Leute entscheidet zuallererst die wirtschaftliche Situation des Elternhauses.

Dazu wurden 2010 insgesamt 2.411 Schüler von der 7. Klasse bis zur Berufsschule befragt. 1.821 verwertbare Datensätze gab es am Ende, in denen Mittelschüler, Gymnasiasten, Berufs- und Förderschüler Auskunft gaben über Lebensziele, Zukunftsaussichten, Taschengeld, Probleme, Elternhaus, Hobbys oder auch Gründe fürs Scheitern.

Dazu kamen 1.496 junge Leute zwischen 18 und 27, die ihre Fragebögen ausgefüllt zurücksandten, so dass die Statistiker auch vergleichen konnten, wie sich schulischer Erfolg in erfolgreiche oder nicht so erfolgreiche Lebenskarrieren umsetzte. Und wer dem sächsischen Kultusminister immer noch glaubt, es läge nur an den jungen Leuten, wenn sie den Sprung aufs Gymnasium schaffen wollten, der wird hier eines Besseren belehrt. Der Wunsch ist da. 21 Prozent der Leipziger Mittelschüler äußern den Wunsch, nach einem Realschulabschluss auch noch das Abitur nachholen zu wollen.

Zwar schätzen die meisten Befragten ein, dass eigener Einsatz, Kenntnisse und Fähigkeiten, Schulabschluss und Zensuren wesentlich darüber entscheiden, ob sie im Beruf später Erfolg haben, aber auf welcher Schule die Kinder landen, darüber entscheidet ganz früh ganz wesentlich das Elternhaus. So liegt der Anteil von Elternhäusern, in denen beide Elternteile erwerbstätig sind, bei Leipziger Gymnasiasten bei 107 Prozent im Vergleich zum Gesamtdurchschnitt. In Mittelschulen liegt er ein knappes Prozent überm Durchschnitt, in Förderschulen dafür 68 Prozent unterm Durchschnitt. Deutlicher Hinweis schon hier darauf, dass die meisten Kinder in Förderschulen nicht aufgrund angeborener Behinderungen landen, sondern aus sozialen Ursachen.

Der Anteil von Kindern mit zwei arbeitslosen Elternteilen ist im Umkehrschluss an Gymnasien 38 Prozent niedriger als der Leipzig-Durchschnitt, in Mittelschulen liegt er dafür 19 Prozent überm Durchschnitt, in Förderschulen sogar um 137 Prozent.

Auch in Berufsschulen sind augenscheinlich eher Kinder aus Familien mit prekärem Einkommenshintergrund zu finden. Was darauf hindeutet, dass ihre Chancen, sofort nach der Schule eine Lehre aufzunehmen oder gar zu studieren, deutlich geringer sind als in besser betuchten Elternhäusern.

Ein wenig war Sozialbürgermeister Thomas Fabian sogar überrascht, dass die bessere Erwerbslage der Eltern von Gymnasiasten auch mit dem klassischen Familienbild korrespondiert. In Familien von Gymnasialkindern liegt der Anteil traditioneller Familienform um 17 Prozent überm Gesamtdurchschnitt, während die Patchwork-Familie, die in den letzten Jahren so etwas wie die junge Standardfamilie in Leipzig geworden ist, eher bei Mittelschülern (15 Prozent überm Durchschnitt) dominiert.Kann man natürlich darüber spekulieren, ob gesicherte Erwerbsbiografien auch dazu führen, dass Familien stabiler sind. Eine solche raumgreifende Studie über den Einfluss prekärer und nicht-prekärer Einkommensverhältnisse auf Familienmuster und Partnerschaften gibt es ja noch nicht. Aber Vieles deutet darauf hin, dass schon die Tatsache, ob junge Leute eine stabile Einkommenssituation erreichen, über die Gründung einer Familie und die Erfüllung eines Kinderwunsches entscheiden.

Denn Kinder wollen sie fast alle. Das haben auch frühere Bürgerumfragen gezeigt. Doch diese Umfrage hier belegt auch, dass vor allem junge Leute mit höherem Bildungsabschluss die Familiengründung weit hinausschieben und sich den Kinderwunsch meist erst erfüllen, wenn sie nach einer Ochsentour durch Studium, Bewerbung, Praktika und oft noch diverse befristete Jobs (an dieser Stelle ein fröhlicher Gruß an die sächsische Wissenschaftsministerin, die lieber ordentliche Dozentenstellen durch neue prekäre Jobs ersetzt) endlich festen Grund unter den Füßen haben.

Ja: Diese Befragung der jungen Leute ist auch ein eindeutiges Plädoyer gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik mit ihren dummdreisten Schlagworten von “Mobilität, Flexibilität und Outsourcing”.

Ergebnis ist, dass zwar 25 Prozent der jungen Leute zwischen 18 und 27 Jahren mit Hauptschulabschluss schon Kinder haben, aber nur 9 Prozent derer mit abgeschlossenem Studium. Was immerhin ordentliche Zahlen sind, wenn man bedenkt, dass das durchschnittliche Erstgebärendenalter in Leipzig mittlerweile über 29 Jahre liegt. Und es deutet Manches darauf hin, dass gerade junge Leute mit nicht so hohem Bildungsabschluss die Zeit der prekären Jobsituation dazu nutzen, sich dann doch lieber erst den Kinderwunsch zu erfüllen und dadurch auch eine Art gesellschaftliche Akzeptanz zu finden.Natürlich löst das Kinderkriegen nicht die Probleme der eigenen Berufskarriere. In vielen Fällen verschärft es sie sogar – nämlich da, wo auch die Partnerschaft Opfer der prekären Situation wird. Im Ergebnis sind gerade Alleinerziehende in Leipzig diejenigen, die die größten Probleme haben, eine tragfähige Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Und die hier besonders prekären Rahmenbedingungen spiegeln sich auch in den schulischen Chancen der Kinder: in Berufs- und in Förderschulen ist der Anteil von Kindern mit alleinerziehendem Elternteil überproportional hoch (+ 16 % und + 22 %).

Da ahnt man nicht nur, wie viel Hilfe und Unterstützung gerade diese jungen Eltern brauchen und warum die Stadt Leipzig hier eine ihrer Hauptaufgaben sieht – sei es in der Familienberatung, sei es in der Organisation von Familienzentren in wichtigen Kindergärten, auch in der Bereitstellung von beitragsbefreiten Kita-Plätzen für Kinder aus diesen Familien. Übrigens alles freiwillige Aufgaben.

Was der Freistaat Sachsen von diesen Hilfen hält, hat die Landesdirektion Leipzig gerade erst bei der Haushaltsgenehmigung für den Landkreis deutlich gemacht. Sie hat den Landkreis aufgefordert, “das Haushaltsbudget für die Schulsozialarbeit (eine freiwillige Aufgabe des Landkreises), dessen Ansatz im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdreifacht worden ist, kritisch zu prüfen.”

Heißt im Klartext: Wird der nächste Haushalt wieder so knapp wie der diesjährige, und die Gelder für die Schulsozialarbeiter stehen noch in gleicher Höhe drin, wird’s wohl keine Genehmigung geben. Auch Leipzig hat mittlerweile an seinen Mittelschulen flächendeckend Sozialarbeiter, die den Schülern als Ansprechpartner in allen sozialen Fragen zur Verfügung stehen. Sie helfen auch bei der Beratung zum künftigen Ausbildungsweg, was bei den Schülern erstaunlich gut ankommt.

Die Stadt Leipzig hat mittlerweile viele Pufferangebote geschaffen, um die Bildungschancen der Kinder gerade aus den wirtschaftlich benachteiligten Familien zu verbessern. Doch sie kann nicht alle Fehler ausbügeln, die das Land bei seiner Bildungspolitik macht.

Die wirtschaftliche Situation der Eltern wirkt sich übrigens auch direkt auf Wohlergehen, Selbstbild und Zukunftssicht der Kinder aus.

Dazu aber mehr morgen an dieser Stelle.

Ein bisschen was zum Hintergrund: www.freitag.de/kultur/1209-utopischer-charme

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